PTBS nach Unfall: Diagnosesysteme ICD und DSM-V
Sofern Sie von einer durch einen Dienstunfall verursachten Posttraumatischen Belastungsstörung betroffen sind, werden Sie im ungünstigsten Fall erleben müssen, wie schwierig die Durchsetzung dienstunfallrechtlicher Ansprüche sein kann.
Dabei ist die Rechtslage überschaubar und an sich gar nicht besonders schwierig.
Problematisch sind aber die medizinischen Fragen, nämlich die medizinische Diagnose, die Bemessung der Schwere der eingetretenen Gesundheitsstörung und der Nachweis der Kausalität zwischen Unfall und PTBS.
Noch schwieriger wird alles, wenn - wie nicht selten - weitere psychische Störungen hinzutreten.
Wir möchten Sie auf dieser Seite damit vertraut machen, dass es verschiedene Diagnosesysteme gibt, die zudem in der Praxis von höchst unterschiedlichen medizinischen Gutachtern angewandt werden, die wiederum auf Diagnosen und Berichte der behandelnden Ärzte und Therapeuten zurückgreifen.
Wir versuchen die Auffassungen der Gerichte darzustellen, indem wir mit den Zitaten die Sprache und die Denkweise der Gerichte übernehmen. Eigentlich ist die Diagnostik aber Sache der Mediziner und wir können in diesem Zusammenhang das 2019 in 5. Auflage im Springer-Verlag erschienene Buch "Traumafolgestörungen" von Andreas Maercker (Herausgeber) nur wärmstens empfehlen. Dort wird auch die ICD in der Version 11 vorgestellt.
LSG Hamburg Urteil vom 11.12.19 - L 2 U 9/18 - zur Diagnostik bei PTBS
Die erste hier auszugsweise vorgestellte Entscheidung, ein Urteil des Landessozialgerichts Hamburg, betrifft die psychische Belastung eines Arbeitnehmers nach einem Arbeitsunfall. Es geht also nicht unmittelbar um Beamtenversorgungsrecht / Dienstunfallfürsorge, aber die Fragestellungen sind in Bezug auf die medizinsche Beurteilung weitgehend die gleichen wie im Dienstunfallrecht.Wir geben hier nur den Teil der Gerichtsentscheidung wieder, der sich mit dem in solchen Fällen nicht unüblichen "Gutachterstreit" befasst.
Das Gericht stellt die beiden zur Zeit führenden Diagnosesysteme ICD und DSM vor und wendet sich dann dem Einzelfall zu.
Dabei wird nur darüber befunden, ob bis zum Jahr 2014 (also fünf Jahre vor der aus 2019 stammenden Entscheidung des Gerichts) eine PTBS bestand. Ob später eine Besserung eingetreten ist, lässt das Gericht unerörtert.
Wir haben einige Kommentierungen in den Text eingestreut.
LSG Hamburg Urteil vom 11.12.19 - L 2 U 9/18 - (Auszug)
Zunächst formuliert das Gericht gewissermaßen einen Grundsatz: Es muss eine - gemessen am Stand der Wissenschaft - nachvollziehbare, konkrete Diagnose vorliegen bzw. möglich sein.Zur Anerkennung einer psychischen Störung als Unfallfolge ist eine exakte Diagnose der Krankheit nach einem der international anerkannten Diagnosesysteme (zum Beispiel ICD-10, DSM) unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erforderlich, damit die Feststellung nachvollziehbar ist (BSG, Urteil vom 29.11.11, B 2 U 23/10 R, NZS 2012, 390).
Dann erläutert das Gericht die zwei zur Zeit anerkanntesten Diagnosesysteme.
Es beginnt mit den ICD-10, die in absehbarer Zeit durch ICD-11 abgelöst werden dürften.
Ausführlich dargestellt wird, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Beide Diagnosesysteme fordern (als sog. Traumakriterium) zunächst ein extremes, für jeden schwer zu verarbeitendes Erlebnis.
Zunächst erläutert die gerichtliche Entscheidung ICD-10:
Nach dem (noch aktuellen) ICD-10 (F 43.1) setzt die Feststellung einer PTBS
(A-Kriterium nach ICD-10)
eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde, voraus (A-Kriterium).
Prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z. B. zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und seinen Verlauf erschweren, aber die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären.
Das B-Kriterium nach ICD-10
Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten (B-Kriterium).
Das C-Kriterium nach ICD-10
Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten
(C-Kriterium: Vermeidungsverhalten).
Das D-Kriterium nach ICD-10
Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörung auf (D-Kriterium).
Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. Der Verlauf ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung über.
Nun erläutert das Gericht sein Verständnis von dem Diagnoseschlüssel DSM-V, der aus Amerkia kommt und in Deutschland langsam an Boden gewinnt, aber keinesfalls unumstritten ist.
Nach dem im Jahr 2013 veröffentlichten neuesten Diagnosesystem der amerikanischen Fachgesellschaften, dem DSM-V, das als aktueller Stand der Wissenschaft den DSM-IV ersetzt, ist im Vergleich zum DSM-IV das subjektive Element der Bedrohung weggefallen.
Nach dem DSM-V müssen erfüllt sein:
A. Traumatisches Ereignis: Die Person war mit einem der folgenden Ereignisse konfrontiert: Tod, tödlicher Bedrohung, schwerer Verletzung, angedrohter schwerer Verletzung, sexueller Gewalt, angedrohter sexueller Gewalt.
B. Wiedererleben: Das traumatische Ereignis wird wiederkehrend wiedererlebt, und zwar in einer der nachfolgenden Weisen (mindestens eine):
- wiederkehrende, unfreiwillige und eindringliche belastende Erinnerungen
- traumatische Alpträume
- dissoziative Reaktionen (z. B. Flashbacks), in Dauer variierend von einer kurzen Episode bis zum Verlust des Bewusstseins
- intensiver oder langanhaltender Stress, nachdem die Person an das traumatische Erlebnis erinnert wurde
- markante physiologische Reaktion, nachdem die Personen einem Reiz ausgesetzt war, der einen Bezug zum traumatischen Erlebnis hat.
C. Vermeiden: Anhaltendes starkes Vermeidungsverhalten von traumaassoziierten Reizen nach dem traumatischen Erlebnis (mindestens eines):
Traumaassoziierte Gedanken oder Gefühle oder traumaassoziierter externer Reize (z. B. Menschen, Orte, Unterhaltungen, Tätigkeiten, Objekte oder Situationen).
D. Negative Veränderungen von Gedanken und Stimmung: Die negativen Veränderungen von Gedanken und Stimmung begannen oder verschlechterten sich nach dem traumatischen Erlebnis (mindestens zwei):
- Unfähigkeit, sich an wichtige Merkmale des traumatischen Erlebnisses zu erinnern (normalerweise dissoziative Amnesie) - andauernde (und oft verzerrte) negative Annahmen von sich selbst oder der Welt (z. B. "Ich bin schlecht", "Die ganze Welt ist gefährlich")
- andauernde verzerrte Vorwürfe gegen sich selbst oder gegen andere, am traumatischen Erlebnis oder seinen negativen Folgen schuld zu sein
- andauernde negative traumaassoziierte Emotionen (z. B. Angst, Wut, Schuld oder Scham)
- markant vermindertes Interesse an wichtigen (nicht traumaassoziierten) Tätigkeiten - das Gefühl, anderen fremd zu sein (z. B. Distanziertheit oder Entfremdung)
- eingeschränkter Affekt: andauernde Unfähigkeit, positive Emotionen zu empfinden.
E. Veränderung in Erregung und Reaktionsfähigkeit: Traumaassoziierte Veränderungen in Erregung und Reaktionsfähigkeit, die nach dem traumatischen Erlebnis begonnen oder sich danach verschlechtert haben (mindestens zwei):
- gereiztes oder aggressives Verhalten
- selbstverletzendes oder leichtfertiges Verhalten
- erhöhte Vigilanz
- übermäßige Schreckreaktion
- Konzentrationsschwierigkeiten
- Schlafstörungen.
Jetzt wendet sich das Gericht dem konkreten Fall zu. Sind die jeweiligen Kriterien erfüllt?
Unter Zugrundelegung der Vielzahl der in verschiedenen Rechtsstreiten eingeholten Sachverständigengutachten sowie der Berichte behandelnder Ärztinnen und Ärzte besteht für den Senat zunächst kein Zweifel daran, dass die Kriterien B bis D bzw. E beim Kläger spätestens seit dem "Zusammenbruch" Anfang 2007 vorliegen.
Insbesondere die den Kläger über einen langen Zeitraum behandelnden Ärzte ... schildern detailliert die typische Symptomatik mit traumaassoziierten Intrusionen und begleitenden, nicht nur berichteten, sondern in der Untersuchungssituation reproduzierbaren Vegetativreaktionen wie Hyperarousal.
Soweit die Ärzte für die Befundung auf Schilderungen des Klägers angewiesen sind, legen die vorgenannten schlüssig dar, dass der Kläger trotz seiner persönlichkeitsbedingt teilweise theatralischen Darstellungsweise glaubwürdig ist und angesichts begleitender Vegetativreaktionen und der Konsistenz in Untersuchungssituationen über viele Jahre eine Simulation auszuschließen ist. Gleichzeitig erklären diese Ärztinnen und Ärzte nachvollziehbar, dass die Sachverständigen, die von einer Simulation oder zumindest starken Aggravation des Klägers ausgehen, ..., die Persönlichkeitsstörung mit vor allem histrionischen Zügen nicht hinreichend beachtet haben.
Testpsychologische Verfahren haben in der Diagnostik eine nicht zu unterschätzende Bedeutung
Unterstützt wird diese Auffassung durch die testpsychologischen Ergebnisse.
Dass der Kläger möglicherweise in der einen oder anderen Untersuchungssituation mit seiner Darstellung teilweise von früheren abweicht und seine Beschwerden akzentuiert darstellt, ändert nichts an dem mit ausreichender Sicherheit feststellbaren Kern. Und dieses Verhalten ist zum einen mit seiner Persönlichkeitsstörung und zum anderen mit dem Erleben langjähriger Rechtsstreitigkeiten mit einer Vielzahl ärztlicher Untersuchungen und Begutachtungen und dem teilweise erlebten Gefühl, man glaube ihm nicht, zu erklären.
Nun werden noch einzelne Umstände bewertet, etwa: Lag ein Vermeidungsverhalten vor, wie es die Diagnosesysteme fordern (jeweils das sog. C-Kriterium)?
Die Schilderungen des Klägers zum Vermeidungsverhalten werden auch bestätigt durch die Aussage des Zeugen Ro. und letztlich durch die Beendigung des Arbeitsverhältnisses als Sanitärtechniker. Dass der Kläger mal mehr, mal weniger in der Lage ist, in Begutachtungssituationen den Unfallhergang zu schildern, spricht nicht gegen das Vorliegen des Kriteriums Vermeidungsverhalten, wie insbesondere Professor Dr. Na. nachvollziehbar ausgeführt hat. Denn sachliche Angaben in einer geschützten Umgebung können auch bei einer Traumafolgestörung möglich sein.
Spricht es gegen die Diagnose, dass Symptome erst nach einiger Zeit auftraten?
Dass gerade in den ersten Monaten nach dem streitgegenständlichen Ereignis ärztliche Untersuchungen stattfanden, in denen keine auffälligen psychischen Befunde erhoben wurden, dürfte mit der Sachverständigen Dr. Dr. Md. vor allem darauf zurückzuführen sein, dass zunächst die somatischen Beschwerden im Vordergrund der Untersuchungen standen. Darüber hinaus ist das auch stärker verzögerte Auftreten der Symptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung schon definitionsgemäß nicht ungewöhnlich.
Schließlich ergibt sich aus erst im späteren Verlauf des Verfahrens beigezogenen und deshalb auch einigen Sachverständigen nicht bekannten Berichten, dass trotz einer anderen Fokussierung durchaus in den ersten Monaten nach dem Ereignis auffällige psychische Befunde erhoben wurden.
So nahm Dr. St. bereits Anfang August 2006 eine durch die Traumatisierung mobilisierte neurotische Depression an und der Neurologe und Psychiater V. äußerte im November 2006 den Verdacht auf eine Angststörung. Schließlich wurde der Kläger ab Anfang 2007 nach seinem "Zusammenbruch" von Dr. Do. und der Psychologin Ha. unter der Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung behandelt. Soweit in der Folgezeit auch ärztliche Befunderhebungen erfolgten, in denen keine oder kaum psychische Auffälligkeiten festgehalten wurden, findet dies eine schlüssige Erklärung in dem insbesondere von Dr. Dr. Md. geschilderten typischen fluktuierenden Verlauf der Erkrankung gerade bei psychisch vorgeschädigten Betroffenen, wobei der Hinweis der "klägerkritischen" Sachverständigen auf ein scheinbar unauffälliges Verhalten während der stationären Behandlung in der Chirurgie schon deshalb ins Leere geht, weil Professor Dr. Na. eindrücklich geschildert hat, dass der Kläger auch in dieser Zeit ständig im Kontakt zur psychiatrischen Abteilung war.
Schließlich wendet sich das Gericht noch einmal dem A-Kriterium zu: war das Unfallgeschehen "dramatisch"?
Die beiden Diagnosesysteme unterscheiden sich insoweit ein wenig.
Der Senat ist darüber hinaus davon überzeugt, dass auch das A-Kriterium für die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung nach den beiden einschlägigen Diagnosesystemen erfüllt ist.
Auch wenn die zeitnächsten Unfallschilderungen auf den ersten Blick relativ "undramatisch" klingen und auch zuletzt Dr. Dr. Md. das Ereignis als objektiv "mittelschwer" einordnet, ist doch zu konstatieren, dass ein Stromschlag bei einer Spannung von 230 V gerade bei nicht funktionierendem Fehlerstrom-Schutzschalter ein lebensbedrohliches Ereignis darstellt, und unabhängig davon, dass der subjektive Eindruck auf den Kläger so immens war, dass es zu einem psychischen Erstschaden gekommen ist. In der Zusammenschau aller Indizien ist davon auszugehen, dass der Kläger nicht nur eine "gewischt" bekam und dann von der Leiter abstieg, wie es zuweilen im Laufe des Verfahrens dargestellt worden ist. Es ergibt sich vielmehr das stimmige Gesamtbild, dass ein nicht nur kurzer Stromkontakt stattfand, als die Verteilerdose auf den Arm des auf der Leiter stehenden und oberhalb der Zwischendecke arbeitenden Klägers fiel, sondern dass es während eines längeren Stromkontakts zu Muskelzuckungen des Klägers kam, die letztlich dazu führten dass die Leiter umfiel und der Kläger sich dann auf dem Boden wiederfand. Hierfür spricht in Kenntnis der späteren Schilderungen bereits die vom Durchgangsarzt, der den Fokus auf möglichen organischen Schädigungen hatte, sehr knapp gehaltene Unfallschilderung, in der auch bereits von einem Kippeln der Aluleiter die Rede war. Weiter spricht dafür die heftige Reaktion des Klägers, der blass war, zitterte und - wie es der Zeuge Ro. schilderte - "irgendwie durch den Wind" war. Dieser vom Zeugen Ro. telefonisch gegenüber dem Vorsitzenden der Kammer des Sozialgerichts und glaubhaft gegenüber dem erkennenden Senat geschilderte Umstand belegt das Vorliegen eines psychischen Erstschadens im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Stromunfall. Dies sieht selbst der vom Sozialgericht gehörte Sachverständige Dr. F. so, der dem nur nicht weiter nachgegangen ist, weil er aufgrund eigener, ihm nicht zustehender Beweiswürdigung die damals nur bekannte telefonische Angabe des Zeugen Ro. als mit den aktenkundigen Erstangaben nicht kompatibel beiseite ließ.
Hinzu kommt, dass Erinnerungslücken und Verdrängungsmechanismen nach den Ausführungen insbesondere der Sachverständigen Dr. Dr. Md. bei einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht ungewöhnlich sind. Des Weiteren ist bei Zugrundelegung des vorgenannten Sachverhalts davon auszugehen, dass der Kläger schon während des Stromkontakts, auf jeden Fall unmittelbar danach Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühle und eine außergewöhnliche Bedrohung seines Lebens erlebte, zumal seine heftige Reaktion die Umstehenden veranlasste, den Notarzt zu holen, der sich wiederum veranlasst sah, den Kläger mit dem Rettungstransportwagen zur Überwachung ins Krankenhaus zu bringen, wo er auch sofort auf der Intensivstation aufgenommen wurde. Damit ist eine seelische Traumatisierung zur Überzeugung des Senats nachgewiesen, sodass sämtliche Kriterien für das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung vorliegen, ...
Geprüft wird oft auch die Frage von Vorerkrankungen
Ebenso bestehen aufgrund des unmittelbaren zeitlichen und inhaltlichen Zusammenhangs mit dem Ereignis und der erst später in ihrer Deutlichkeit auftretenden ereignisassoziierten Symptomatik keine Zweifel an der wesentlichen Ursächlichkeit des Stromunfalls für das Auftreten der posttraumatischen Belastungsstörung. Die vorbestehenden Erkrankungen in psychischer Hinsicht haben als prädisponierende Faktoren die Entwicklung der Erkrankung begünstigt, sind jedoch allein nicht ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären, zumal die aufgrund eines Arbeitsplatzkonflikts für die Vergangenheit beschriebene Ängstlichkeit des Klägers aufgrund des Weggangs des betreffenden Leiharbeitnehmers beseitigt gewesen sein dürfte. Gleiches gilt für die nach dem Unfall auftretenden Faktoren wie die zufällige Entdeckung eines Epidermoids sowie die Belastung durch langanhaltende Rechtsstreitigkeiten. Die spezifisch traumabezogene Symptomatik mit entsprechenden Flashbacks, Alpträumen und Vermeidungsverhalten hat über Jahre angehalten und sich chronifiziert, was zwar untypisch, aber andererseits auch nicht außergewöhnlich ist.
Etwas kurz kommt in diesem Fall die sonst oft umstrittene Bemessung von MdE bzw. GdS, die im Beamtenversorgungsrecht große Bedeutung haben kann.
Nach alledem ist das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung als weitere Unfallfolge festzustellen.
Die Beklagte wird aufgrund dessen Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung ... zu erbringen haben, wobei nach den insoweit schlüssigen Ausführungen der Sachverständigen Dr. Dr. Md., die diesbezüglich in
Übereinstimmung stehen mit den in der unfallversicherungsrechtlichen Standardliteratur genannten MdE-Erfahrungswerten (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 169 bis 172, Anmerkung 5.1.16) von einer MdE um 40 v.H. jedenfalls zum Zeitpunkt ihrer Untersuchung auszugehen ist. Der Senat muss angesichts des inhaltlich und zeitlich beschränkten Antrags nicht darüber befinden, ob eine wesentlich ursächlich auf den streitgegenständlichen Arbeitsunfall zurückzuführende posttraumatische Belastungsstörung mit den daraus resultierenden Leistungsansprüchen auch noch über den März 2014 hinaus vorliegt oder ob eine Verschiebung der Wesensgrundlage eingetreten ist (vgl. zum Begriff: Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 154 Anm. 5.1.3 m.w.N.). Ebenso kann offenbleiben, ob der Sachverständigen Dr. Dr. Md. auch in ihrer Einschätzung gefolgt werden kann, dass bereits mit erstmaligem Wiedereintritt von Arbeitsfähigkeit am 19.07.06 eine MdE um 40 v.H. mit entsprechendem Rentenanspruch bestand oder nicht erst nach Ende der mit dem zu dauernder Arbeitsunfähigkeit führenden "Zusammenbruch" Anfang 2007 einsetzenden Verletztengeldzahlung.
Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 19.07.18 - L 6 U 2309/17 -, zu PTBS nach DSM V
Zur Ergänzung noch die folgende Stellungnahme zu den Diagnosesystemen, mit denen die Behörden und Gerichte arbeiten.Die neugefasste DSM-5 erfährt von dem Landessozialgericht Baden-Württemberg eine herbe Absage:
Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 19.07.18 - L 6 U 2309/17 -
Die von dem Sachverständigen ... diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10-GM-2018 F43.1) liegt bereits nicht im Vollbeweis vor.Diese Krankheit, welche nach der von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebenen Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme in ihrer aktuellen und international gültigen Ausgabe ICD-10, Version 2018 (ICD-10-GM-2018) als "F43.1" kodiert wird, bezeichnet eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (ICD-10-GM-2018 F62.0) über. Kriterien für die Diagnosestellung sind (vgl. Schnyder, MedSach 2003, S. 142 (143 f.)) ein Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß, das nahezu bei jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde (A-Kriterium), Wiedererleben: Erinnerungen tagsüber, Träume, Flashbacks, Bedrängnis bei Konfrontation mit ähnlichen Ereignissen (B-Kriterium), Vermeidung von Umständen, welche der Belastung ähneln (C-Kriterium), Amnesie oder erhöhte Sensitivität und Erregung: mindestens zwei der folgenden Merkmale: Schlafstörungen, Reizbarkeit oder Wutausbrüche, Konzentrationsstörungen, Hypervigilanz, erhöhte Schreckhaftigkeit (D-Kriterium) sowie das Auftreten in der Regel innerhalb von sechs Monaten nach dem Ereignis (E-Kriterium). Nach diesem Diagnosesystem orientiert sich die vertragsärztliche Behandlung (Urteil des Senats vom 27.08.15 - L 6 VS 4. -, juris, Rz. 36). Es ist daher in erster Linie auch von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten sowie den Sachverständigen anzuwenden, da es die nachvollziehbare Feststellung einer konkreten psychischen Gesundheitsstörung unter Verwendung eines üblichen Diagnosesystems sowie des dortigen Schlüssels und der Bezeichnungen ermöglicht.
Zur Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung herangezogen wird auch das von der American Psychiatric Association in den Vereinigten Staaten von Amerika herausgegebene Diagnostische und statistische Manual psychischer Störungen, seit 1996 auch auf Deutsch; die Textrevision der vierten Auflage wurde 2000 veröffentlicht (DSM-IV-TR). Nach DSM-IV-TR 309.81 ist das so genannte "Traumakriterium", das A-Kriterium, eingängiger gefasst. Danach ist Hauptmerkmal der posttraumatischen Belastungsstörung die Entwicklung charakteristischer Symptome nach der Konfrontation mit einem extrem traumatischen Ereignis. Das traumatische Ereignis beinhaltet unter anderem das direkte persönliche Erleben einer Situation, die mit dem Tod oder der Androhung des Todes, einer schweren Verletzung oder einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit zu tun hat (A1-Kriterium). Es muss ein extremes, lebensbedrohliches Ereignis tatsächlich stattgefunden haben (Foerster/Leonhardt, MedSach 2003, S. 146 (147)). Bezüglich des Erlebnisses ist eine Reaktion von Angst, Hilflosigkeit oder Grauen zu verlangen (A2-Kriterium). Weitere Kriterien sind (vgl. Schnyder, a. a. O.) ständiges Wiedererleben des traumatischen Ereignisses (B-Kriterium), anhaltendes Vermeiden spezifischer Stimuli, welche an das Trauma erinnern (C-Kriterium), Angst oder erhöhtes Erregungsniveau (D-Kriterium), Dauer mindestens ein Monat (E-Kriterium) sowie erhebliches Leiden oder Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Bereichen (F-Kriterium).
Die seit Mai 2013 dem DSM-IV-TR folgende, nunmehr in deutscher Sprache vorliegende 5. Auflage des Diagnostischen und statistischen Manuals (DSM-5) steht dem an sich nicht entgegen (vgl. hierzu Urteil des Senats vom 27.08.15 - L 6 VS 4. -, a. a. O., Rz. 40; Widder/Dreßing/Gonschorek/Tegenthoff/Drechsel-Schlund, MedSach 2016, S. 156 ff.).
Unter das A-Kriterium wird nunmehr allerdings auch die Erfahrung wiederholter oder extremer Konfrontation mit aversiven Details von einem oder mehreren derartigen traumatischen Ereignissen (z. B. Ersthelfer, die menschliche Leichenteile aufsammeln, oder Polizisten, die wiederholt mit schockierenden Details von Kindesmissbrauch konfrontiert werden) gefasst.
Damit löst sich, ohne dies deutlich zu machen, die DSM-5 deutlich von der historischen Entwicklung der Erfassung seelischer Folgen schwerer Traumatisierung in den psychiatrischen Klassifikationsschemata, welche nicht zuletzt unter dem Druck der Veteranen des 1955 begonnenen Vietnamkrieges erfolgte, denen ganz unzweifelhaft permanente lebensbedrohliche Ereignisse widerfuhren und die Gräueltaten mit anblicken mussten (vgl. Hirschmüller, MedSach 2003, S. 137 (140)). Hiervon unterscheidet sich der Fall des Klägers gravierend.
An dem Diagnosesystem DSM-5 wird im fachmedizinischen Schrifttum zudem die fehlende Validität bemängelt (Urteil des Senats vom 27.08.15 - L 6 VS 4. -, a. a. O., Rz. 41). Da die exakte psychische Diagnose es nachvollziehbar machen muss, warum und in welchem Ausmaß eine Person psychisch krank ist, ist das DSM-5 besonders bei der posttraumatischen Belastungsstörung nicht geeignet, diese Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten (Urteil des Senats vom 27.08.15 - L 6 VS 4. -, a. a. O., Rz. 42).
Geschichtliche Entwicklung der Diagnose PTBS
Zur geschichtlichen Entwicklung der PTBS noch der folgende Auszug aus einem vermutlich noch nicht rechtskräftigen Urteil des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein vom 18.07.18 - L 8 U 74/15 -Die posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) ist ein Störungsbild, das 1980 im Gefolge der Erfahrungen des Vietnamkriegs in das DSM-3-Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft aufgenommen wurde. Häufig wird inzwischen in der posttraumatischen Belastungsstörung die einzig mögliche psychoreaktive Antwort auf ein belastendes äußeres Ereignis gesehen, was jedoch nicht der Fall ist. Die Häufigkeit des Vorliegens einer posttraumatischen Belastungsstörung ein Jahr nach einem Verkehrsunfall schwankt mit Werten von 2 % in einem schweizerischen Kollektiv von Schwerverletzten bis zu 15 % in einer Übersicht früherer Studien. Zur Frage des Auftretens psychoreaktiver Störungen nach Arbeitsunfällen liegen dagegen nur wenige Studien vor. Nyberg et al. fanden sechs Monate nach schweren Arbeitsunfällen bei 12 % der Betroffenen das Vollbild einer PTBS. Identische Zahlen berichteten Hu et al. für unmittelbare Zeugen tödlicher Arbeitsunfälle. Eine besondere Bedeutung scheinen Handtraumen zu besitzen.
"Typische" Symptome einer PTBS können letztlich nach alltäglich auftretenden "Life-Events", wie Arbeitsplatzverlust oder familiären Problemen, eigenen schweren Krankheiten sowie Tod oder Erkrankung eines nahen Angehörigen, auftreten. Vergleichbare Symptome fanden sich auch bei Patienten mit depressiven Störungen, bei denen gar kein spezifisches Lebensereignis zu eruieren war, bei Personen mit Sozialphobien in verfahrenen Lebenssituationen sowie letztlich auch bei "Mobbing" am Arbeitsplatz.
Bezüglich einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung sind wiederholte und anhaltende Traumatisierungen zu fordern. Hier wird auf Erlebnisse in einem Konzentrationslager, Folter, Katastrophen, andauernde lebensbedrohliche Situation verwiesen. Gemäß der ICD-10-Klassifikation handelt es sich bei der posttraumatischen Belastungsstörung - in diesem Zusammenhang aber lediglich auf katastrophale Ereignisse bezogen - um eine "verzögerte oder protrahierte Reaktion". Nach Horowitz kommt dies dadurch zustande, dass die seelische Beeindruckung im Anschluss an die unmittelbare peritraumatische Akutreaktion mit Überflutung von den überwältigenden Eindrücken derart hoch ist, dass diese Erlebnisse zunächst dem Bewusstsein im Sinne der Verleugnung entzogen sind und sich erst im Verlauf willentlich unbeeinflussbar in das Bewusstsein drängen. Verwiesen wird darauf, dass die Symptome normalerweise innerhalb der ersten drei Monate nach dem Trauma auftreten. Dies könnte den Eindruck erwecken, dass eine hinreichend zeitnahe psychische Reaktionsbildung für die Diagnose einer PTBS in Zukunft völlig entbehrlich ist. Liest man hierzu den Kommentar (DSM-5), wird man jedoch eines Besseren belehrt: So sei die Forderung nach einer emotionalen Reaktion auf das Trauma (lediglich) deswegen nicht mehr Teil von Kriterium A, weil das klinische Bild der PTBS ... vielfältig ist. Dies entspricht auch prospektiven Studien, die zeitnah zu Unfallereignissen psychische Symptome berichten. Darüber hinaus findet sich im DSM-5 zum verzögerten Beginn einer PTBS die Aussage, wonach in diesem Fall das Auftreten "einzelner Symptome zwar initial" bereits erkennbar ist, aber erst im Verlauf "alle" diagnostischen Kriterien erfüllt sind. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Betroffenen bis zum Auftreten des Vollbildes einer PTBS keinesfalls symptomfrei sind, sondern während dieser Zeit bereits in Teilbereichen ihres Lebens durch psychische Symptome eingeschränkt sind, was sich dann im Sinne von Brückensymptomen nachweisen lassen muss. Dies entspricht auch der wissenschaftlichen Literatur, wonach ein verzögerter Beginn der PTBS außerhalb kriegerischer Auseinandersetzungen "extrem selten" ist und dass auch in diesem Fall auch bereits zuvor Teilsymptome erkennbar sind.
Bundessozialgericht, Urteil vom 06.10.20, B 2 U 10/19 R
Das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 06.10.20, B 2 U 10/19 R, auf die Revision des Klägers hin das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18.07.18 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.Die Revisionsentscheidung, welche Sie im Internet finden, ist ausführlich, hoch kompliziert, knochentrocken und sehr interessant.