Disziplinarrecht: Prognoseentscheidung bei Zugriffsdelikt
Es sind verschiedene Milderungsgründe anerkannt, die es unter Umständen ausschließen, dass nach einem Zugriffsdelikt eine Entfernung aus dem Dienst erfolgt. Diese hat das Gericht stets zu prüfen, wobei das Bundesverwaltungsgericht den Grundsatz "in dubio pro reo" bemüht, wenn Zweifel oder Unklarheiten bleiben.
Selbst wenn ein anerkannter Milderungsgrund fehlt, ist vor einer Entfernung aus dem Dienst eine umfassende Prognoseentscheidung zu der Frage zu treffen, ob dem Beamten noch vertraut werden kann.
Das Bundesverwaltungsgericht hat Ende 2005 folgendes dazu ausgeführt:
Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 20.10.05 - 2 C 12.04 -
Das Berufungsurteil verletzt insoweit Bundesrecht, als es bei seiner Entscheidung gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG einen endgültigen Verlust des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit angenommen hat, ohne zuvor eine umfassende Prognoseentscheidung unter Berücksichtigung aller wesentlichen Umstände des Einzelfalls zu treffen. Einer solchermaßen umfassenden disziplinargerichtlichen Prognose bedarf es zur Vermeidung von Schematisierung auch dann, wenn sich der Beamte, wie vorliegend, bei der Ausübung seiner dienstlichen Tätigkeit an Vermögenswerten, die seinem Gewahrsam unterliegen, vergriffen hat. Ein solches Dienstvergehen ist "regelmäßig" geeignet, das Vertrauensverhältnis zu zerstören (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 19.02.03 - 2 BvR 1413/01 - NVwZ 2003, 1504, 1504 f. m. w. N.), so dass in diesen Fällen die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis grundsätzlich Ausgangspunkt der Bestimmung der angemessenen Disziplinarmaßnahme ist.
Die von der Schwere des Dienstvergehens ausgehende Indizwirkung entfällt, wenn gewichtige und im Einzelfall durchgreifende Entlastungsgründe festgestellt werden. Dann hat das Dienstvergehen keinen endgültigen Vertrauensverlust zur Folge. Deshalb darf sich die Würdigung nicht auf die Verneinung "anerkannter Milderungsgründe" beschränken.
...
Bei der prognostischen Frage, ob bei einem Beamten aufgrund eines schweren Dienstvergehens ein endgültiger Vertrauensverlust im Sinne des § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG eingetreten ist, gehören zur Prognosebasis alle für diese Einschätzung bedeutsamen belastenden und entlastenden Bemessungsgesichtspunkte, bei einem so genannten Zugriffsdelikt im Rahmen entlastender Umstände also nicht nur die bislang von der Rechtsprechung "anerkannten Milderungsgründe". Dies gebieten sowohl das gesetzliche Bemessungskriterium "angemessene Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes des Beamten" als auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot). Die gesamte Prognosegrundlage muss in der Entscheidung des Gerichts dargelegt werden; ob sie dann den Schluss auf einen noch verbliebenen Rest an Vertrauen in die Person des Beamten zulässt, ist eine Frage der Gesamtabwägung im Einzelfall.
Diesen Anforderungen wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Es hat sich im Wesentlichen darauf beschränkt, das Vorliegen "anerkannter Milderungsgründe" zu prüfen und im Ergebnis zu verneinen. Erheblich verminderte Schuldfähigkeit ist aus tatsächlicher und rechtlicher Sicht als unmaßgeblich angesehen worden. Mit Blick auf den dienstlichen Werdegang, die Beurteilung der dienstlichen Leistungen des Beklagten und sein sonstiges dienstliches Verhalten hat das Berufungsgericht die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis als nicht unverhältnismäßig bezeichnet; bei der "gebotenen Gesamtschau" bestehe kein Anlass zur Milde.
Diese Darlegungen lassen nicht erkennen, dass das Berufungsgericht die erforderliche Prognoseentscheidung zum Umfang der vom Beklagten verursachten Vertrauensbeeinträchtigung getroffen hat.
...
Da es für die Frage des endgültigen Vertrauensverlusts aber nicht nur auf das Vorhandensein eines "anerkannten Milderungsgrundes", sondern auf eine Gesamtabwägung aller auch entlastender Umstände ankommt, durfte das Berufungsgericht nicht aus Rechtsgründen offen lassen, ob der Beklagte das "Schieben" der Nachnahmebeträge freiwillig, d.h. ohne Furcht vor Entdeckung (Urteil vom 27.11.02 - BVerwG 1 D 10.02 -) offenbart hatte. ...
Das Berufungsurteil verletzt insoweit Bundesrecht, als es bei seiner Entscheidung gemäß § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG einen endgültigen Verlust des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit angenommen hat, ohne zuvor eine umfassende Prognoseentscheidung unter Berücksichtigung aller wesentlichen Umstände des Einzelfalls zu treffen. Einer solchermaßen umfassenden disziplinargerichtlichen Prognose bedarf es zur Vermeidung von Schematisierung auch dann, wenn sich der Beamte, wie vorliegend, bei der Ausübung seiner dienstlichen Tätigkeit an Vermögenswerten, die seinem Gewahrsam unterliegen, vergriffen hat. Ein solches Dienstvergehen ist "regelmäßig" geeignet, das Vertrauensverhältnis zu zerstören (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 19.02.03 - 2 BvR 1413/01 - NVwZ 2003, 1504, 1504 f. m. w. N.), so dass in diesen Fällen die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis grundsätzlich Ausgangspunkt der Bestimmung der angemessenen Disziplinarmaßnahme ist.
Die von der Schwere des Dienstvergehens ausgehende Indizwirkung entfällt, wenn gewichtige und im Einzelfall durchgreifende Entlastungsgründe festgestellt werden. Dann hat das Dienstvergehen keinen endgültigen Vertrauensverlust zur Folge. Deshalb darf sich die Würdigung nicht auf die Verneinung "anerkannter Milderungsgründe" beschränken.
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Bei der prognostischen Frage, ob bei einem Beamten aufgrund eines schweren Dienstvergehens ein endgültiger Vertrauensverlust im Sinne des § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG eingetreten ist, gehören zur Prognosebasis alle für diese Einschätzung bedeutsamen belastenden und entlastenden Bemessungsgesichtspunkte, bei einem so genannten Zugriffsdelikt im Rahmen entlastender Umstände also nicht nur die bislang von der Rechtsprechung "anerkannten Milderungsgründe". Dies gebieten sowohl das gesetzliche Bemessungskriterium "angemessene Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes des Beamten" als auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot). Die gesamte Prognosegrundlage muss in der Entscheidung des Gerichts dargelegt werden; ob sie dann den Schluss auf einen noch verbliebenen Rest an Vertrauen in die Person des Beamten zulässt, ist eine Frage der Gesamtabwägung im Einzelfall.
Diesen Anforderungen wird das Berufungsurteil nicht gerecht. Es hat sich im Wesentlichen darauf beschränkt, das Vorliegen "anerkannter Milderungsgründe" zu prüfen und im Ergebnis zu verneinen. Erheblich verminderte Schuldfähigkeit ist aus tatsächlicher und rechtlicher Sicht als unmaßgeblich angesehen worden. Mit Blick auf den dienstlichen Werdegang, die Beurteilung der dienstlichen Leistungen des Beklagten und sein sonstiges dienstliches Verhalten hat das Berufungsgericht die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis als nicht unverhältnismäßig bezeichnet; bei der "gebotenen Gesamtschau" bestehe kein Anlass zur Milde.
Diese Darlegungen lassen nicht erkennen, dass das Berufungsgericht die erforderliche Prognoseentscheidung zum Umfang der vom Beklagten verursachten Vertrauensbeeinträchtigung getroffen hat.
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Da es für die Frage des endgültigen Vertrauensverlusts aber nicht nur auf das Vorhandensein eines "anerkannten Milderungsgrundes", sondern auf eine Gesamtabwägung aller auch entlastender Umstände ankommt, durfte das Berufungsgericht nicht aus Rechtsgründen offen lassen, ob der Beklagte das "Schieben" der Nachnahmebeträge freiwillig, d.h. ohne Furcht vor Entdeckung (Urteil vom 27.11.02 - BVerwG 1 D 10.02 -) offenbart hatte. ...
Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Rechtsprechung, dass auch bei
Zugriffsdelikten die Disziplinarmaßnahme auf Grund einer prognostischen
Gesamtwürdigung aller in Einzelfall bedeutsamen be- und entlastenden
Gesichtspunkte zu bestimmen ist, wiederholt bekräftigt, u. a. in zwei
Urteilen vom 03.05.07 (2 C 9/06 und 2 C 30/05). Diese Entscheidungen sind für die Praxis sehr bedeutsam.
In diesem Zusammenhang ist auch die ⁄ Entscheidung 2 C 59.07 vom 29.05.08 von großer Bedeutung.
In diesem Zusammenhang ist auch die ⁄ Entscheidung 2 C 59.07 vom 29.05.08 von großer Bedeutung.