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Rücksichtslose Sonderrechtsfahrt als Dienstvergehen

VG Berlin, Urteil vom 16.11.17 – 80 K 10.16 OL –

Tatbestand
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Die Klägerin wendet sich gegen eine Disziplinarverfügung, mit der gegen sie eine Geldbuße in Höhe von 150,- Euro verhängt wurde.
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Die 19...geborene Klägerin steht als Polizeioberkommissarin im Dienst des Landes Berlin.
Disziplinarrechtliche oder strafrechtliche Vorbelastungen gibt es nicht.
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Die Klägerin führte am 17. Oktober 2014 als Streifenleiterin in Begleitung ihres Streifenkollegen einen Einsatzwagen. Nachdem sie am späten Nachmittag beobachtet hatten, dass eine verdächtige Person mit einem VW Passat und polnischem Kennzeichen einen Parkplatz verlassen hatte und ersichtlich flüchtete, nahmen sie die Verfolgung des Verdächtigen auf, wobei sie unter Einsatz von Blaulicht und Einsatzhorn Sonder- und Wegerecht in Anspruch nahmen. Gegen 17:39 Uhr fuhren beide Fahrzeuge die M. in südlicher Richtung entlang, wobei das Einsatzfahrzeug zeitweise eine gemessene Geschwindigkeit von 121 km/h pro Stunde aufwies. An der Kreuzung M. fuhr der flüchtende Pkw – wie bereits zuvor – bei roter Lichtzeichenanlage über die Kreuzung. Die Fahrzeugführer des Querverkehrs aus der S. (Herr S...) und L.  (Herr W...), die bei für sie grüner Lichtzeichenanlage in den Kreuzungsbereich gefahren waren, konnten ihre Fahrzeuge vor dem Fluchtfahrzeug noch zum Halten bringen und eine Kollision vermeiden. Die Klägerin in dem nachfolgenden Einsatzwagen erkannte dies und setzte nach kurzer Bremsbetätigung vor der Kreuzung nunmehr mit etwa 100 km/h die Verfolgungsfahrt fort, wobei sie unter fortdauerndem Einsatz von Blaulicht und Einsatzhorn ebenfalls die für sie rote Lichtzeichenanlage an der Kreuzung überfuhr. Anders als von ihr erwartet nahmen die beiden Fahrzeuge des Querverkehrs nach dem Passieren des flüchtenden Pkw ihre Fahrt jedoch wieder auf, woraufhin die Klägerin eine Vollbremsung einleitete und ihr Fahrzeug stark nach rechts lenkte. Es kam zur Kollision mit dem Fahrzeug des Herrn W., wobei das von der Klägerin gelenkte Einsatzfahrzeug zum Kollisionszeitpunkt noch eine Geschwindigkeit von 63 km/h aufwies. Durch die Wucht des Aufpralls drehte sich das Fahrzeug des Herrn W. und kollidierte mit dem entgegenkommenden Fahrzeug des Herrn S.. Bei dem Unfall wurden alle Insassen der involvierten Fahrzeuge leicht verletzt, wobei Herr W... und Herr S... zur ambulanten Behandlung in Krankenhäuser gebracht wurden. Es entstand zudem erheblicher Sachschaden.
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Ein gegen die Klägerin eingeleitetes strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt stellte die Staatsanwaltschaft Berlin im Mai 2015 nach § 153 StPO ein.
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Am 15. Juni 2015 leitete der Leiter der Direktion als Dienstvorgesetzter der Klägerin das Disziplinarverfahren wegen des Vorwurfs ein, eine fahrlässige Körperverletzung im Amt begangen und hierbei zugleich gegen dienstliche Weisungen verstoßen zu haben.
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Die Klägerin äußerte sich zu dem Vorwurf dahingehend, sie habe das Verkehrsgeschehen auf der Unfallkreuzung sehr sorgsam und umsichtig beobachtet. Die Kollision sei letztlich unvermeidbar gewesen. Sie hätte stattdessen das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung und ihren dienstlichen Auftrag vernachlässigen und die Verfolgungsfahrt abbrechen können.
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Nach abschließender Anhörung der Klägerin unter Beifügung des Ermittlungsergebnisses und Beteiligung von Personalrat und Frauenvertreterin erließ der Beklagte die angegriffene Disziplinarverfügung vom 29.04.16. Hierin warf er der Klägerin als Dienstvergehen vor, unter Missachtung der Geschäftsanweisung ... über die Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten mit wenigstens 63 km/h statt wie vorgeschrieben Schrittgeschwindigkeit in den Kreuzungsbereich eingefahren zu sein, so dass es zu der Kollision gekommen sei. Die Klägerin habe die Sonder- und Wegerechte nicht mit der gebührenden Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wahrgenommen, um unverhältnismäßige Gefahren zu vermeiden. Die Klägerin hätte sich durch Hineintasten in den Kreuzungsbereich überzeugen müssen, dass sämtliche Teilnehmer des Querverkehrs ihre Absicht wahrgenommen und ihr Verhalten darauf eingestellt hätten.
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Zu Gunsten der Klägerin sei zu berücksichtigen, dass sie den Verkehrsunfall und das Eintreten von Körper- und Sachschäden bedauere.
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Mit der am 26.05.16 erhobenen Klage wendet sich die Klägerin gegen die Disziplinarverfügung und wiederholt im Wesentlichen ihre Einschätzung, sich ordnungsgemäß und rechtsfehlerfrei verhalten zu haben. Der Eintritt des Schadens gehe auf die überraschende Unachtsamkeit des Geschädigten W... zurück und sei für sie unvorhersehbar gewesen. Die Klägerin verweist ferner darauf, dass auch der Beklagte im Amtshaftungsprozess (Klage des Geschädigten W... gegen das Land Berlin) vor dem Kammergericht in ähnlicher Weise argumentiert habe. Der Verfahrensbevollmächtigte des Beklagten habe dort zu Recht darauf hingewiesen, dass Polizeibeamte die Verfolgung von vornherein aufgeben könnten, wenn sie sich bei Einfahrt in eine Kreuzung vergewissern müssten, dass die Sondersignale von sämtlichen Teilnehmern des Querverkehrs wahrgenommen worden seien.

Die Klägerin beantragt, die Disziplinarverfügung aufzuheben.

Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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1. Die Klägerin hat ein Dienstvergehen begangen. Zu Recht ist der Beklagte in der angegriffenen Disziplinarverfügung davon ausgegangen, dass die Klägerin bei der dienstlichen Verfolgungsfahrt die Sonderrechte nach § 35 Abs. 1 StVO nicht unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt, hierbei zugleich die für derartige Fälle geltende Geschäftsanweisung PPr Stab Nr. 06/011 missachtet und letztlich eine fahrlässige Körperverletzung im Amt begangen hat.
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Zwar hatte sich die Klägerin durch gleichzeitiges und rechtzeitiges Einschalten von Blaulicht und Martinshorn Vorrang vor dem aufgrund grün abstrahlender Lichtzeichenanlage an sich vorfahrtberechtigten Abs. 1 Satz 2 StVO). Gegen dieses Vorrecht haben die beiden Fahrzeuge des Querverkehrs verstoßen, als sie nach Passieren des Fluchtfahrzeugs statt weiterhin stehen zu bleiben und eine Gasse für das Dienstfahrzeug zu bilden wieder anfuhren.
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Gemäß § 35 Abs. 8 StVO dürfen die durch § 35 Abs. 1 StVO eingeräumten Sonderrechte jedoch nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden. Dies bedeutet, dass der Sonderrechtsfahrer der erhöhten Unfallgefahr, die er durch das Abweichen von den Vorschriften herbeiführt, durch besondere Aufmerksamkeit und Vorsicht begegnen muss. Diese Sorgfaltspflicht ist umso größer, je mehr seine gegen die StVO verstoßende Fahrweise, die zu der zu erfüllenden hoheitlichen Aufgabe nicht außer Verhältnis stehen darf, die Unfallgefahr erhöht.
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Die von der Klägerin zu beachtende interne Geschäftsanweisung PPr Nr. 06/2011 über die Inanspruchnahme von Sonder- und Wegerechten stellt eine Konkretisierung dieser Grundsätze dar. Nach Nr. 6 (1) dieser Geschäftsanweisung hat sich die Kraftfahrerin bei Sonderrechtsfahrten an Kreuzungen und Einmündungen mit Lichtzeichenanlagen, die Rotlicht abstrahlen, vorsichtig und maximal mit Schrittgeschwindigkeit in diese hineinzutasten. Auf diese Weise soll sich der Führer des Einsatzwagens davon überzeugen können, dass ihn alle Verkehrsteilnehmer wahrgenommen und sich auf seine Absicht eingestellt haben. Auch wenn man die Formulierung „Schrittgeschwindigkeit“ nicht in jedem Fall wörtlich nehmen muss, steckt doch die berechtigte Forderung dahinter, die Geschwindigkeit beim Einfahren in den Kreuzungsbereich jedenfalls so niedrig zu halten, dass ein Anhalten jederzeit möglich ist, wenn sich die Erwartung, von allen anderen Verkehrsteilnehmern unter Einräumung des Vorrangs wahrgenommen worden zu sein, eben nicht erfüllt.
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Von diesen rechtlichen Vorgaben ist die Klägerin hier in erheblicher Weise abgewichen, indem sie mit ca. 100 km/h in den Kreuzungsbereich hineinfuhr und daher nicht mehr in der Lage war, rechtzeitig zu reagieren und anzuhalten, als sie erkannte, von mehreren Fahrzeugen des Querverkehrs nicht wahrgenommen worden zu sein. Trotz einer Vollbremsung betrug die Aufprallgeschwindigkeit beim daraus resultierenden Unfall immer noch 63 km/h.
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Es entlastet die Klägerin auch nicht, dass sie vor Einfahrt in die Kreuzung der Auffassung war, es sei von den Fahrzeugen des Querverkehrs bereits eine Gasse gebildet worden. Die betroffenen Fahrzeugführer hatten ersichtlich zunächst darauf reagiert, dass das Fluchtfahrzeug mit hoher Geschwindigkeit bei „Rot“ über die Kreuzung gefahren war und ihren Weg gekreuzt hatte; die Fahrzeugführer des Querverkehrs hatten durch sofortiges Anhalten eine Kollision noch vermeiden können. Die Klägerin hätte jedoch aus diesem Stopp der Fahrzeuge nicht ohne weiteres den Schluss ziehen dürfen, dass die Fahrzeuge nach der Durchfahrt des Fluchtfahrzeugs weiterhin stehen bleiben und auch dem Einsatzfahrzeug die Durchfahrt ermöglichen würden, zumal das Einsatzfahrzeug sich noch kurz vor dem Kreuzungsbereich und damit nicht im unmittelbaren Sichtfeld der Fahrzeugführer des Querverkehrs befand. Es bestand daher die Möglichkeit, auch wegen des ausgelösten Schrecks bei den Fahrzeugführern, dass diese – wie geschehen – die Gesamtsituation falsch einschätzen und glauben könnten, nach Durchfahrt des Fluchtfahrzeugs ihre Fahrt wieder fortsetzen zu können. Es wäre daher auch in dieser Situation notwendig gewesen, dass sich die Klägerin zunächst mit geringer Geschwindigkeit in den Kreuzungsbereich hineingetastet hätte, um sich zu überzeugen, dass sie von den Verkehrsteilnehmern des Querverkehrs tatsächlich wahrgenommen wird und diese dem Einsatzfahrzeug „freie Bahn“ gewähren.
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Die Klägerin ist stattdessen mit sehr hoher Geschwindigkeit, etwa dem Doppelten der erlaubten Höchstgeschwindigkeit, bei „Rot“ in den Kreuzungsbereich gefahren, so dass sie letztlich nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte, als sie bemerkte, dass sie vom Querverkehr nicht beachtet worden war. Sie hat damit sich und ihren Beifahrer sowie die übrigen Verkehrsteilnehmer einer erheblichen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt, die sich – neben der Gefahr für die Sachwerte – teilweise realisiert hat.
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Der Umstand, dass es sich um eine Verfolgungsfahrt gehandelt hat, ändert an der rechtlichen Bewertung nichts. Es gelten insoweit keine anderen Maßstäbe als bei anderen Sonderrechtsfahrten. Grund zur Eile besteht in allen derartigen Fällen, etwa auch bei Rettungseinsätzen. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass es sich bei dem Delikt, das Anlass für die Verfolgung war, um einen Autodiebstahl handelte und nicht um ein schwerwiegendes Verbrechen. Dies hätte bei einer Gesamtabwägung umso mehr Anlass bieten müssen, Leib und Leben der übrigen Verkehrsteilnehmer nicht zu gefährden. Der Umstand, dass der Verfahrensbevollmächtigte des Beklagten im Amtshaftungsprozess vor dem Kammergericht eine zum Teil abweichende Auffassung vorgetragen hat, ist zwar aus Sicht der Klägerin nachvollziehbar irritierend, rechtlich jedoch ohne Bedeutung. Das Kammergericht ist dieser unrichtigen Rechtsauffassung auch nicht gefolgt.
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Die Klägerin handelte sorgfaltswidrig, mithin fahrlässig und auch im Übrigen schuldhaft.
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2. Die ausgesprochene Geldbuße in Höhe von 150,- Euro ist auch aus Sicht des Gerichts angemessen und zur Pflichtenmahnung ausreichend. Zu Lasten der Klägerin war zu berücksichtigen, dass die Überschreitung der angemessenen Geschwindigkeit beim Einfahren in die Kreuzung und die daraus resultierende Gefahrenlage ganz erheblich war. Auch die Folgen des Unfalls – gesundheitliche Beeinträchtigungen der betroffenen Fahrzeugführer und erheblicher Sachschaden – waren zu berücksichtigen.
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Mildernd fällt ins Gewicht, dass die Klägerin bislang disziplinarrechtlich unbescholten war und gute dienstliche Leistungen gezeigt hat. Das Gericht bewertet auch, dass die Klägerin aus dem Stress des Augenblicks heraus einer Fehleinschätzung unterlegen ist, als sie das Anhalten des Querverkehrs fehlerhaft so deutete, dass auch für das Einsatzfahrzeug bereits eine Gasse gebildet worden sei. Hinzu kommt, dass der Vorfall mittlerweile etwa drei Jahre zurück liegt und daher davon ausgegangen werden kann, dass die Klägerin bereits aufgrund dieser eher maßvollen Geldbuße und dem Eindruck des Disziplinarverfahrens zu künftig sorgfältigerem Umgang mit Sonderrechtsbefugnissen veranlasst wird.
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