Untersuchtung auf Dienstfähigkeit beim Psychiater?
Einzelfall einer unwirksamen Untersuchungsanordnung
Die nachstehende Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin ist ein gutes Beispiel dafür, wie sorgfältig und kenntnisreich die deutschen Verwaltungsgerichte mit rechtlichen Fragen umgehen und dabei die Rechte der betroffenen Bürger (in diesem Fall eines Beamten) im Blick haben und sie ggf. schützen.
Das Gericht klärt, dass es zu einer Entscheidung berufen ist und eine einstweilige Anordnung erlassen darf (was eine Zeit lang umstritten war), und setzt sich dann in vorbildlicher Weise mit einer Vielzahl von Fragen auseinander, die im Hinblick auf die Rechtmaßigkeit einer Untersuchungsanordnung gestellt werden können.
Was auf den ersten Blick kleinlich genannt werden könnte, erscheint uns angemessen, da es für die Betroffenen einen erheblichen Eingriff in ihre Rechte bedeutet, wenn sie sich einer ärztlichen Untersuchung stellen sollen.
Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom 01.12.21 - 5 L 259/21 - ECLI:DE:VGBE:2021:1201.VG5L259.21.00
LeitsatzEine Untersuchungsaufforderung, die unmittelbar und unbedingt eine psychiatrische Exploration anordnet, genügt nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn der Dienstherr keine belastbaren Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Erkrankung aus dem psychiatrischen Formenkreis bei dem zu untersuchenden Beamten hat.
Tenor
Es wird im Wege einstweiliger Anordnung festgestellt, dass der Antragsteller der Aufforderung des Antragsgegners vom 04.01.21, sich einer polizeiärztlichen Untersuchung zu unterziehen, vorläufig nicht folgen muss.
Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro bestimmt.
Gründe
RN 1
Der ... Antragsteller steht als Beamter auf Lebenszeit im Dienst des Landes Berlin und wird als Polizeikommissar bei der Polizei Berlin dienstlich verwendet. Er ist seit dem 20.07.20 arbeitsunfähig erkrankt. Die entsprechenden Bescheinigungen wurden soweit aktenkundig von Fachärzten der Fachrichtungen Allgemeinmedizin (vom 20.07.20 bis zum 07.08.20) sowie Neurologie und Psychiatrie (vom 04.08.20 bis zum 26.11.20) ausgestellt. In der Vergangenheit hatte der Antragsteller seinem Dienstherrn bereits verschiedene Atteste von Ärzten weiterer Fachrichtungen (Chirurgie, HNO, Innere Medizin, Nuklearmedizin, Implantologie und Oralchirurgie sowie Orthopädie) eingereicht.
RN 2
Mit Schreiben vom 17.11.20 bat der Polizeipräsident in Berlin den Antragsteller unter Hinweis auf dessen Fernbleiben vom Dienst infolge von Erkrankungen um Mitteilung der Art der Beschwerden, der zugrundeliegenden Diagnosen und der voraussichtlichen Dauer der Erkrankung. Diese Angaben seien erforderlich, um eine mögliche Untersuchungsanordnung nach Art und Umfang der Untersuchung spezifizieren zu können. Der Antragsteller erklärte über ein beigefügtes Formblatt, dass er sich nur gegenüber dem polizeiärztlichen Dienst äußern wolle, weshalb er der Anordnung zur polizeiärztlichen Untersuchung Folge leisten würde.
RN 3
Mit Schreiben vom 04.01.21 wies der Polizeipräsident in Berlin nochmals darauf hin, dass der Antragsteller dem Dienst seit dem 20.07.20 wegen Erkrankung fernbleibe und teilte mit, dass er seinen ärztlichen Dienst gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 LBG gebeten habe, den Antragsteller polizeiärztlich zu untersuchen, wobei der polizeiärztliche Dienst auch einen externen Facharzt beauftragen könne. Weiter heißt es in dem Schreiben:
„Die vorgesehene polizeiärztliche Untersuchung richtet sich nach Ihren aktuellen Beschwerden, die zunächst dem Bereich
zuzuordnen sind.
In der Untersuchung ist zunächst eine psychiatrische Exploration vorgesehen. Diese besteht in Fragen nach der Biographie, dem Befinden und anderer körperlicher Beschwerden. Danach werden soweit erforderlich nachfolgende Untersuchungen je nach Erforderlichkeit durchgeführt:
Ob und welche konkreten Verfahren noch zusätzlich eingesetzt werden müssen, entscheidet sich während der medizinischen Exploration. Insgesamt wird die Untersuchung ca. zwei Stunden daueRN
Ich weise darauf hin, dass ggf. Folge- oder Laboruntersuchungen mit der Entnahme von Blut und/oder Urin ergehen können.“
RN 9
Mit Schreiben der Polizei Berlin, Direktion Zentraler Service, Abteilung Personal – Ärztlicher Dienst vom 18.10.21 wurde der Antragsteller, für den zwischenzeitlich ein Grad der Behinderung von 50 festgestellt wurde, gebeten, am 13.12.21 um 10:30 Uhr beim ärztlichen Dienst vorzusprechen.
RN 10
Der von dem Antragsteller daraufhin am 09.11.21 gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel, der Untersuchungsanordnung vorläufig nicht Folge leisten zu müssen, ist zulässig und begründet.
RN 11
Der Antrag ist statthaft und auch sonst zulässig. Insbesondere steht der Zulässigkeit des Antrags § 44a VwGO in verfassungskonformer Auffassung nicht entgegen. Ein Ausschluss des vorläufigen Rechtsschutzes würde dem Gewicht des in Rede stehenden Grundrechtseingriffs nicht gerecht, zumal regelmäßig lediglich eine Verzögerung des Abschlusses des Zurruhesetzungsverfahrens zu besorgen ist. Die inhaltlichen Anforderungen an die Untersuchungsanordnung dienen insbesondere dazu, dem Beamten effektiven Rechtsschutz noch vor dem Untersuchungstermin zu ermöglichen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.10.20 – 2 BvR 652/20 – RN 35; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.06.21 – 4 S 6/21 –, juris RN 4; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 29.10.20 – 2 B 11161/20 – RN 7 f.; Hessischer VGH, Beschluss vom 11.08.20 – 1 B 1846/20 –, juris RN 14 ff.; anders noch BVerwG, Beschluss vom 14.03.19 – 2 VR 5.18 –, juris Ls. 1).
RN 12
Der Antrag ist auch begründet. Der Antragsteller hat die Voraussetzungen für einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund mit der für eine Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO).
RN 13
Die Untersuchungsanordnung der Polizei Berlin vom 04.01.21 genügt nach der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht den Anforderungen des § 39 Abs. 1 Satz 2 LBG. Daher kann die Beantwortung der Frage dahinstehen, ob die Untersuchungsanordnung rechtswidrig (geworden) ist, weil es der Antragsgegner unterlassen hat, die Schwerbehindertenvertretung zu beteiligen, nachdem ihm der Antragsteller seine Schwerbehinderung mit Schreiben vom 02.06.21 gemeldet hatte.
RN 14
Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 2 LBG ist ein Beamter verpflichtet, sich nach Weisung der Dienstbehörde durch einen von dieser bestimmten Arzt untersuchen zu lassen, wenn Zweifel über seine Dienstunfähigkeit bestehen. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit sind an eine solche Untersuchungsaufforderung bestimmte inhaltliche und formelle Anforderungen zu stellen, denen die angegriffene Anordnung nicht genügt. Sie enthält weder hinreichend bestimmte Angaben zu Art und Umfang der ärztlichen Untersuchung noch ist sie verhältnismäßig.
RN 15
Der Untersuchungsanordnung müssen im Grundsatz zunächst tatsächliche Feststellungen zugrunde liegen, die die Dienstunfähigkeit des Beamten als naheliegend erscheinen lassen. Die Behörde muss diese tatsächlichen Umstände in der Untersuchungsaufforderung angeben. Der Beamte muss anhand der Begründung die Auffassung der Behörde nachvollziehen und prüfen können, ob die angeführten Gründe tragfähig sind. Er muss erkennen können, welcher Vorfall oder welches Ereignis zur Begründung der Aufforderung herangezogen wird. Die Behörde darf insbesondere nicht nach der Überlegung verfahren, der Adressat werde schon wissen, „worum es geht“ (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.05.13 – 2 C 68.11 –, juris RN 20 f.; BVerwG, Beschluss vom 10.04.14 – 2 B 80.13 –, juris RN 9).
RN 16
Diese Voraussetzung erfüllt die angegriffene Untersuchungsanordnung mit dem Hinweis auf die krankheitsbedingte Abwesenheit des Antragstellers seit dem 30.07.20. Bei einer auf die gesetzliche Vermutungsregel nach § 26 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG gestützten Untersuchungsaufforderung kann als dienstunfähig auch angesehen werden, wer infolge Erkrankung innerhalb von sechs Monaten mehr als drei Monate keinen Dienst getan hat und keine Aussicht besteht, dass innerhalb weiterer sechs Monate die Dienstfähigkeit wieder voll hergestellt ist (vgl. § 39 Abs. 1 LBG). Hier sind Anlass für die Untersuchungsanordnung die krankheitsbedingten Fehlzeiten des gesetzlich geregelten Umfangs. Für diese Fallgestaltung langdauernder Ausfallzeiten, bei denen auf Seiten des Dienstherrn – wie hier – keine weiteren Erkenntnisse über die zugrunde liegende Erkrankung vorliegen, gelten die zu Fällen der Untersuchungsanordnung nach § 26 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG entwickelten Anforderungen nicht. Die Untersuchungsanordnung muss deshalb keine Angabe von über die Dauer der krankheitsbedingten Fehlzeiten hinausgehenden Gründen für die Untersuchung enthalten. Der Dienstherr muss insbesondere in der Untersuchungsanordnung nicht darlegen, dass und warum die zugrunde liegenden Erkrankungen Zweifel an der Dienstfähigkeit des Beamten begründen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14.03.19, a.a.O. RN 47; Beschluss der Kammer vom 07.03.19, – 5 L 5.19 –, juris RN 13).
RN 17
Die Untersuchungsanordnung muss darüber hinaus Angaben zu Art und Umfang der ärztlichen Untersuchung enthalten. Die Behörde darf dies nicht dem Belieben des Arztes überlassen. Nur wenn in der Aufforderung selbst Art und Umfang der geforderten ärztlichen Untersuchung nachvollziehbar sind, kann der Betroffene nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ihre Rechtmäßigkeit überprüfen. Der Dienstherr muss sich bereits im Vorfeld des Erlasses zumindest in den Grundzügen darüber klar werden, in welcher Hinsicht Zweifel am körperlichen Zustand oder der Gesundheit des Beamten bestehen und welche ärztlichen Untersuchungen zur endgültigen Klärung geboten sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 30.05.13, a.a.O. RN 22 f.; BVerwG, Beschluss vom 10.04.14, a.a.O. RN 10).
RN 18
Dem wird die angegriffene Untersuchungsanordnung nicht gerecht. Für den Antragsteller sind Art und Umfang der geplanten ärztlichen Untersuchungen nicht hinreichend absehbar. Insbesondere ist nicht klar, inwieweit sich die Untersuchung auf die Bereiche „Allgemeinmedizin“, „Innere Medizin“ und / oder „Chirurgie“ bezieht und die Untersuchungsanordnung auch auf die Entnahme von Blut und / oder Urin erstreckt.
RN 19
Es wird bereits nicht genügend deutlich, auf welchen Bereich sich die Untersuchung zunächst beziehen soll. Zwar ist auf Seite 2 der Untersuchungsanordnung vom 04.01.21 lediglich das Kästchen neben den Fachgebieten „Neurologie / Psychiatrie“ angekreuzt; jedoch sind die Kästchen neben den Fachgebieten „Allgemeinmedizin“, „Innere Medizin“ und „Chirurgie“ grau schattiert und nicht – wie sonst die nicht angewählten Kästchen des verwendeten Formulars – weiß gelassen. Ob dieser farblichen Markierung eine Bedeutung zukommen soll oder es sich dabei – wie der Antragsgegner im hiesigen Verfahren vorträgt – um einen technischen Fehler handelt, ist aus Sicht des Empfängers der Untersuchungsanordnung nicht erkennbar. Es mag zutreffen, dass der Antragsgegner in den behördlichen Formularen, in denen Bereiche mit einem Kreuz markiert oder durch Nichtsetzen eines Kreuzes nicht markiert werden sollen, nicht (willentlich) eine dritte Art der (Nicht-) Kennzeichnung verwendet. Nach dem objektiven Empfängerhorizont (Rechtsgrundsätze der §§ 133, 157 BGB) haben drei verschiedene Arten der Markierung (angekreuzt, grau schattiert, weiß gelassen) grundsätzlich auch drei verschiedene Bedeutungen. Für eine fehlerhafte Markierung der grau schattierten Kästchen ist nichts ersichtlich; im Gegenteil zeigen die (fehlenden) Markierungen im Zusammenhang mit der gegebenenfalls erforderlichen körperlichen Untersuchung (hier sind die Kästchen neben den Kategorien „Blutuntersuchung“ und „Urintest“ weiß gelassen), dass das verwendete Formular eine „Weißlassung“ von einzelnen Kategorien ermöglicht, auch wenn andere Kategorien angekreuzt sind. Schließlich spricht der von dem Antragsgegner angeführte Gesichtspunkt, dass die dritte Art der Markierung für Empfänger nicht nachvollziehbar ist, nicht für eine Bestimmtheit der Untersuchungsanordnung, sondern dagegen.
RN 20
Darüber hinaus ist die Untersuchungsanordnung insoweit missverständlich, als nicht hinreichend deutlich wird, inwieweit sie sich auch auf die Entnahme von Blut und / oder Urin erstreckt. Zwar sind zunächst die Kästchen neben den Kategorien „Blutuntersuchung“ und „Urintest“ nicht angekreuzt, was darauf hindeutet, dass eine Blut- und / oder Urinentnahme auf Grundlage der Untersuchungsanordnung nicht – auch nicht nach Erforderlichkeit – durchgeführt wird. Jedoch heißt es bereits in dem unmittelbar folgenden Absatz, dass sich während der medizinischen Exploration entscheidet, ob und welche konkreten Verfahren noch zusätzlich – das heißt über die bloße körperliche Untersuchung hinaus – eingesetzt werden müssen. Ob unter derartigen Verfahren auch eine Blutuntersuchung oder ein Urintest zu subsumieren ist, wird nicht klargestellt. Weiter verunklart werden die Aussagen durch die weiteren Formulierungen zu Blut- oder Urinentnahmen auf Seite 2 der Untersuchungsanordnung. Danach können gegebenenfalls „Folge- oder Laboruntersuchungen mit der Entnahme von Blut und / oder Urin ergehen“. Unter Berücksichtigung des objektiven Empfängerhorizontes wird die Durchführung von weiteren Untersuchungen mit der Entnahme von Blut oder Urin an keine zusätzlichen Anforderungen geknüpft. Zwar könnte das Verb „ergehen“ dafür sprechen, dass zunächst eine gesonderte Anordnung ergehen muss. Jedoch bezieht sich „ergehen“ nicht auf „Untersuchungsanordnung“, sondern – sprachlich eigentümlich – auf „Folge- oder Laboruntersuchung mit der Entnahme von Blut und / oder Urin“. Nach alldem lässt sich der Untersuchungsanordnung nicht hinreichend klar entnehmen, ob die etwaigen Folge- oder Laboruntersuchungen nur auf der Grundlage einer weiteren Untersuchungsanordnung erfolgen sollen.
RN 21
Weitere Bedenken gegen eine hinreichende Bestimmtheit der Untersuchungsanordnung ergeben sich daraus, dass der Antragsgegner zum Zeitpunkt der Antragserwiderung im hiesigen Verfahren offenbar noch selbst davon ausgegangen ist, dass im Rahmen der polizeiärztlichen Untersuchung „zunächst eine körperliche Untersuchung vorgesehen ist“. Für dieses Verständnis auf Seiten der Behörde spricht auch, dass sich den Behördenakten nicht entnehmen lässt, dass eine psychiatrische Exploration des Antragstellers bei dem polizeiärztlichen Dienst in Auftrag gegeben wurde. In dem entsprechenden Gutachtenauftrag vom 04.01.21 heißt es, dass keine Erkenntnisse zum Krankheitsbild des Antragstellers vorlägen und diesem mitgeteilt worden sei, dass körperliche Untersuchungen nach Erforderlichkeit geboten erscheinen. Im Übrigen enthält der Gutachtenauftrag ersichtlich keine individuell angepassten Passagen, insbesondere keine Beschränkung dahin, den Antragsteller zunächst ausschließlich psychiatrisch zu explorieren und nur erforderlichenfalls körperlich zu untersuchen. Die Kammer hat bereits entschieden, dass der Dienstherr in Fällen, in denen die Untersuchungsanordnung – wie hier – zu Missverständnissen Anlass gibt, jedenfalls sicherstellen muss, dass sich die amtsärztliche Untersuchung auf die Untersuchungen beschränkt, die Inhalt der Untersuchungsanordnung sind (vgl. Beschluss der Kammer vom 07.03.19, a.a.O. RN 17 ff.). Das hat er allerdings nach Aktenlage nicht getan.
RN 22
Schließlich ist die unmittelbare und unbedingte Anordnung einer psychiatrischen Exploration unverhältnismäßig und die Untersuchungsanordnung auch aus diesem Grunde rechtswidrig.
RN 23
Zwar verfolgt die Untersuchungsanordnung mit der Überprüfung der Dienstfähigkeit des Antragstellers einen legitimen Zweck (vgl. § 39 Abs. 1 Satz 2 LBG); die Anordnung einer psychiatrischen Exploration ist im Grundsatz auch geeignet, die Erreichung dieses Zwecks zu bewirken oder zumindest zu fördern. Denn die Feststellung der (dauernden) Dienstunfähigkeit im Sinne des § 26 Abs. 1 BeamtStG setzt eine umfassende Beurteilung der dienstlichen Leistungsfähigkeit des Beamten voraus, die durch eine körperliche und eine psychiatrische Untersuchung getroffen werden kann.
RN 24
Auf Grundlage des derzeitigen Kenntnisstandes ist aber nicht feststellbar, dass die angegriffene Untersuchungsanordnung erforderlich ist. Eine Maßnahme ist erforderlich, wenn kein anderes Mittel verfügbar ist, das in gleicher (oder besserer) Weise geeignet ist, den Zweck zu erreichen, aber den Betroffenen weniger belastet.
RN 25
Eine psychiatrische Exploration, das heißt die Erhebungen eines Psychiaters zur Biographie des Beamten (Kindheit, Ausbildung, besondere Krankheiten), zu dessen seelischer Verfassung, Einstellungen, Denkweisen und gegebenenfalls zum konkreten Verhalten auf dem Dienstposten, stellt nach gefestigter höchstrichterlicher und obergerichtlicher Rechtsprechung grundsätzlich einen besonders weitgehenden Eingriff in dessen Recht aus Art. 2 Abs. 2 GG und dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht dar, der in seiner Intensität über den Eingriff durch rein medizinische Feststellungen noch hinausgeht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.06.1993 – 1 BvR 689/92 –, juris RN 58 ff.; BVerwG, Urteil vom 26.04.12 – 2 C 17/10 –, juris RN 17; BVerwG, Urteil vom 30.05.13 – 2 C 68/11 –, juris RN 22; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.12.17, a.a.O. RN 31; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2.11.15 – 4 S 34.15 –, juris RN 4).
RN 26
Ob im konkreten Einzelfall ein milderes Mittel gleicher Eignung zur Verfügung steht, hängt maßgeblich vom individuellen Krankheitsbild des Betroffenen ab. Falls der Beamte tatsächlich an einer Erkrankung aus dem psychiatrischen Formenkreis leidet, sind weniger eingriffsintensive, aber zur Beurteilung der Erkrankung ebenso geeignete Mittel wie eine psychiatrische Exploration nicht ersichtlich. Voraussetzung ist aber, dass tatsächlich eine derartige Erkrankung vorliegt oder jedenfalls die Annahme einer derartigen Erkrankung gerechtfertigt ist. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann die unmittelbare und unbedingte Anordnung einer psychiatrischen Exploration daher allenfalls genügen, wenn der Dienstherr belastbare Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Erkrankung aus dem psychiatrischen Formenkreis bei dem zu untersuchenden Beamten hat. Derartige Anhaltspunkte können sich insbesondere aus (privat-)ärztlichen Diagnosen und Befunden, soweit diese dem Dienstherrn vorliegen, oder eindeutigen und medizinisch abgesicherten Einlassungen des Beamten zur Art seiner Erkrankung ergeben. Nicht ausreichend ist hingegen, dass eine psychiatrische Erkrankung aus (Laien-) Sicht des Dienstherrn lediglich möglich, plausibel oder wahrscheinlich erscheint.
RN 27
Gemessen an diesen Grundsätzen hatte der Antragsgegner keine hinreichend gesicherten Erkenntnisse über den Gesundheitszustand des Antragstellers, durfte mithin nicht davon ausgehen, dass dieser an einer Erkrankung aus dem psychiatrischen Formenkreis leidet, und konnte folglich nicht feststellen, dass eine psychiatrische Exploration erforderlich ist. Ausweislich des Gutachtenauftrags vom 4.01.21 und der Einlassungen in der Antragserwiderung ging der Antragsgegner selbst davon aus, über keine Erkenntnisse über die Art der Erkrankung des Antragstellers zu verfügen. Der Antragsteller hat davon abgesehen, hierzu vor der Untersuchung durch den Polizeiarzt gegenüber dem Antragsgegner Angaben zu machen. Allein die Tatsache, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen unter anderem von Fachärzten für Neurologie und Psychiatrie ausgestellt wurden, gibt keinen hinreichenden Anlass zu der Annahme, der Antragsteller leide an einer psychiatrischen Erkrankung. Erstens enthalten die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den Dienstherrn keine Diagnose. Zweitens hat der Antragsteller in der Vergangenheit auch Atteste eingereicht, die von Ärzten diverser anderer Fachrichtungen ausgestellt wurden. Drittens ist das erste der beiden Fachgebiete (Neurologie) eines, das sich (jedenfalls auch) mit körperlichen Erkrankungen befasst. Viertens ist ein Facharzt auch nicht gehindert, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf Grundlage einer Diagnose auszustellen, die außerhalb seines Fachgebietes liegt. Auch die offenbar von dem Dienstvorgesetzten des Antragstellers stammenden Angaben aus der Stellungnahme vom 15. September 2021, wonach der Antragsteller „gemessen an den Maßstäben und Einschätzungen eines medizinischen Laien […] offenkundig psychisch auffällig“ sei und selbst von einem „allgemeinen Lebensburnout“ gesprochen habe, stellen keine belastbaren Anhaltspunkte für die Annahme einer psychiatrischen Erkrankung dar. Ersichtlich sind weder die Einschätzungen aus dem Kollegenkreis noch die etwaige Selbsteinschätzung des Antragstellers hinreichend von medizinischer Expertise getragen.
RN 28
Bei einer derart unsicheren Erkenntnislage ist die Anordnung einer unmittelbaren und unbedingten psychiatrischen Exploration nicht erforderlich. Es stehen (zunächst) mildere Mittel zur Verfügung, die ebenso (oder besser) geeignet sind, eine Klärung des Gesundheitszustandes des Antragstellers zu erbringen. Insbesondere hätte der Antragsgegner die Anordnung zunächst auf eine orientierende psychische (und gegebenenfalls körperliche) Untersuchung beschränken und die Durchführung einer (vertiefenden) psychiatrischen Exploration vom Ergebnis dieser Untersuchung abhängig machen können (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 02.11.15, a.a.O.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.11.17, a.a.O.). Auf Grundlage der dem Antragsgegner vorliegenden Erkenntnisse hätte er die orientierende Untersuchung – vor dem Hintergrund des Beschleunigungszwecks von § 26 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG – durch einen Facharzt auf dem Gebiet Neurologie und Psychiatrie anordnen können (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12.12.17, a.a.O. RN 42).
RN 29
Der Antragsteller hat auch die Voraussetzungen eines Anordnungsgrundes glaubhaft gemacht. Ein eiliges Regelungsbedürfnis ergibt sich aus dem unmittelbar bevorstehenden Untersuchungstermin am 13.12.21. Effektiver Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ist dem Antragsteller noch vor diesem Termin zu gewähren (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21.10.20, a.a.O.).
RN 30
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 VwGO. Wegen der Vorwegnahme der Hauptsache ist der Auffangwert nicht zu halbieren.