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Disziplinarrecht: Sexuelle Belästigung von Kolleginnen - Rückstufung des Beamten

Zunächst ein relativ aktueller Leitsatz des Bundesverwaltungsgerichts:

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 28.09.22 - BVerwG 2 A 17.21 -

Leitsätze:

1. ...
2. Aus der Verpflichtung zu achtungs- und vertrauensgerechtem Verhalten aus § 61 Abs. 1 Satz 3 BBG folgt, dass sich Beamte anderen Beschäftigten gegenüber korrekt und kollegial verhalten und den Betriebsfrieden wahren müssen. Äußerungen mit einer sexuellen Konnotation haben Beamte im Dienst und im Dienstgebäude zu unterlassen.

Sodann eine Entscheidung des VG München, die dem Urteil vom 19.04.21 – M 19L DK 20.6656 - ähnelt, das wir bereits vorgestellt haben.
Bei einem Vergleich der beiden Entscheidungen werden Sie sehen, dass die Gerichte in ihren Entscheidungen oft auf Textbausteine zurückgreifen, so weit sie (von ihnen) anerkannte bzw. zugrunde gelegte rechtliche Erwägungen darlegen. Hierr wird auf diese Weise recht nachvollziehbar erläutert, welchen "Strafrahmen" die bayerische Justiz für Fälle der sexuellen Belästigung in Betracht zieht. In diesen Rahmen ordnet sie dann die konkrete Tat ein und bestimmt die Sanktion, die im Einzelfall angemessen ist.

In dieser Entscheidung geht es um einen Fahrlehrer der Polizei, der in vier Fällen junge Kolleginnen verbal "angemacht" hat, wobei es in einem Fall auch zu einer ungewollten Berührung mit sexueller Konnotation gekommen ist.
Unser Auszug aus der Entscheidung, welche Sie auch in der Datenbank der bayerischen Gerichte finden, beginnt mit den Worten: "Das Dienstvergehen wiegt sehr schwer ...".

VG München, Urteil vom 11.07.22 – M 13L DK 20.1800 -

24 IV. Das Dienstvergehen wiegt sehr schwer i.S.v. Art. 14 Abs. 2 Satz 1 BayDG.
Im Rahmen der Berücksichtigung der Schwere des Dienstvergehens, der Beeinträchtigung des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit, dem Persönlichkeitsbild und dem bisherigen dienstlichen Verhalten des Beklagten als Gesichtspunkte der Maßnahmebemessung nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 BayDG ist eine Zurückstufung um zwei Stufen aber noch ausreichend, jedoch auch erforderlich.

25 1. Den Ausgangspunkt der Maßnahmebemessung nach Art. 14 BayDG bildet die Schwere des Dienstvergehens, wobei von der schwersten Dienstpflichtverletzung auszugehen ist.
26 a) Bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz ist eine Regeleinstufung nicht angezeigt (BayVGH, Urteil vom 16.02.22 – 16b D 19.316 – Rn. 51 sowie Urteil vom 13.07.11 – 16a D 10.565 – beck-online Rn. 64; s.a. OVG Lüneburg, Urteil vom 12.1.2010 – 20 LD 17/08). Die Variationsbreite sexueller Zudringlichkeiten im Dienst ist zu groß, als dass sie einheitlichen Regeln unterliegen und in ihren Auswirkungen auf Achtung und Vertrauen gleichermaßen eingestuft werden könnten (BayVGH a.a.O.). Stets sind die besonderen Umstände des Einzelfalls maßgebend. In schweren Fällen innerdienstlicher sexueller Belästigung, insbesondere wenn der Beamte unter Ausnutzung seiner Vorgesetzteneigenschaft versagt und dadurch nicht nur seine Integrität in der Dienststelle weitgehend eingebüßt, sondern auch sein Vertrauensverhältnis zum Dienstherrn schwer erschüttert ist, kann sich grundsätzlich die Frage seiner weiteren Tragbarkeit im öffentlichen Dienst stellen, während in minderschweren Fällen eine mildere Disziplinarmaßnahme verhängt werden kann (BVerwG, Urteil vom 29.7.2010 – 2 A 4/09 – beck-online Rn. 199 m.w.N.; BVerwG, Beschluss vom 16.7.2009 – 2 AV 4.09 –; BayVGH je a.a.O. m.w.N.).
27 b) Während verbale Belästigungen häufig im unteren Bereich möglicher sexueller Belästigungsformen anzusiedeln seien (vgl. BVerwG, Urteil vom 07.05.20 – 2 WD 13.19 – beck-online Rn. 37) und ohne Ausnutzung einer Vorgesetztenstellung noch eine Gehaltskürzung angemessen sein könne (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.5.2002 – 1 D 30.01 – beck-online), ist vorliegend in einem Fall durch die körperliche Berührung die Schwelle zur Strafbarkeit i.S.d. § 184i StGB überschritten, was erschwerend wirkt. Auch nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist das Ausmaß der Missachtung der körperlichen Integrität zu beachten (vgl. BayVGH, Urteil vom 13.07.11 – 16a D 10.565 – beck-online Rn. 66). Allerdings handelte es sich durch die Berührungen des Nackens mit Mund und Zunge um eine sexuelle Belästigung im unteren Bereich im Vergleich möglicher Handlungsformen.
28 c) Allerdings handelte der Beklagte als Fahrausbilder nicht nur mit Vorbildfunktion für die Anwärterinnen und Anwärter, sondern auch vergleichbar einer Vorgesetztenfunktion, waren die Anwärterinnen doch vom Erfolg ihrer Ausbildungsfahrt abhängig.
29 Der Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts hat bei sexuellen Belästigungen von Untergebenen durch Vorgesetzte im Dienst regelmäßig entschieden, dass eine nach außen sichtbare (vielfach sogenannte „reinigende“) Maßnahme, also eine Herabsetzung im Dienstgrad, Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen sei (BVerwG, Urteil vom 13.02.2014 – 2 WD 4.13 – beck-online Rn. 72 m.w.N.).
30 d) Dem Strafrahmen und der konkreten Strafzumessung mit (nur) 90 Tagessätzen für die sexuelle Belästigung der Anwärterin H. kommt vorliegend im Gegensatz zu außerdienstlichen Dienstvergehen jedoch keine vergleichbar indizierende Wirkung zu. Allerdings sind regelmäßig auch die Strafzumessungserwägungen des Strafgerichts hinsichtlich des Tatvorwurfs auch im Disziplinarverfahren von Relevanz.
31 Angesichts eines durchgeführten Täter-Opfer-Ausgleichs hat das Strafgericht einen milderen Strafrahmen angenommen. Zu Lasten des Beklagten wurde gewertet, dass er nicht nur während seiner dienstlichen Tätigkeit als Polizeibeamter, sondern zugleich in seiner Funktion als Vorgesetzter und dies während einer dienstlichen Prüfungsfahrt gehandelt habe, bei der es der Geschädigten nicht möglich gewesen sei, sich dem Geschehen zu entziehen. Die dem sexuellen körperlichen Kontakt vorangegangenen belästigenden Äußerungen seien erheblich gewesen. Zu seinen Lasten sei ferner zu berücksichtigen, dass es sich um keine „einmalige Entgleisung“ gehandelt habe.
32 e) Diese Aspekte fallen auch vorliegend ins Gewicht. Der Beklagte hat nicht nur im Dienst gegen seine Kernpflichten als Polizeibeamter mit der Aufgabe der Verhütung und Verfolgung von Straftaten verstoßen, sondern zudem im Kernbereich seiner Ausbildungstätigkeit bei der Polizei versagt. Es ist zu wiederholten verbalen Übergriffen gekommen. Dabei konnten sich die Betroffenen der Situation im Auto nicht entziehen. Zum einen waren sie von dem Beklagten bzw. seiner Entscheidung hinsichtlich der Ausbildungsfahrt abhängig; er hatte in den betroffenen Situationen faktisch eine überlegene (Macht)Stellung, die er ausnutzte. Zudem konnten sie den verbalen Anspielungen räumlich im Auto nicht entgehen.
33 Durch die Zeugenaussagen ist auch deutlich geworden, dass sie als Anwärterinnen befürchteten, sich nicht zur Wehr setzen zu können und eine erhebliche Schädigung der Polizeiausbildung verursacht wurde. Die Beeinträchtigung des Vertrauens in eine vor Diskriminierung und sexueller Belästigung geschützte Ausbildung bei der Polizei und damit auch des Betriebsfriedens bei der Fahrausbildung der Bayerischen Bereitschaftspolizei fällt daher vorliegend ebenso ins Gewicht.
34 Während das Strafgericht bei der Strafzumessung von einer ernsthaft drohenden Entfernung aus dem Beamtenverhältnis ausging, haben sowohl der Dienstvorgesetzte als auch die Disziplinarbehörde im Verfahren hingegen deutlich zum Ausdruck gebracht, dass einer weiteren Verwendung des Beklagten im jetzigen Bereich „nichts entgegenstünde“.

35 Im Rahmen der gebotenen Einzelfallwürdigung der Schwere des Dienstvergehens ist vor dem Hintergrund der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung daher nicht mehr von der Höchstmaßnahme, aber dennoch von einer Zurückstufung bis ins Eingangsamt auszugehen.

36 2. Einer Zurückstufung bis in das Eingangsamt stehen jedoch auch mildernde Gesichtspunkte gegenüber.
37 Während eine ansonsten pflichtgemäße Dienstausübung und durch die dienstlichen Beurteilungen bewerteten Leistungen eines Beamten für sich an sich (noch) nicht geeignet sind, einen gravierenden Pflichtenverstoß in einem milderen Licht erscheinen zu lassen (BayVGH, Urteil vom 16.02.22 – 16b D 19.316 – beck-online Rn- 52, BVerwG, Beschluss vom 12.02.19 - 2 B 6.19 - juris Rn. 4), sind dennoch die (besonders) gute Beurteilung aus dem Jahre 2017 einerseits sowie das aktuelle Persönlichkeitsbild zugunsten des – disziplinarisch und strafrechtlich im Übrigen nicht vorbelasteten – Beklagten zu werten.
38 Insbesondere hat sich der Beklagte jedoch zuletzt geständig und einsichtig gezeigt, was bereits das Persönlichkeitsbild bemerkt, und dadurch den Zeuginnen ihre Einvernahme in der mündlichen Verhandlung ersparte.
39 Dass das Disziplinarverfahren bereits – erfolgreich – pflichtenmahnenden Charakter beim Beklagten hatte, belegen die Ausführungen im Persönlichkeitsbild ebenfalls. Auch auf die Ausführungen des Bevollmächtigten des Beamten kann insoweit verwiesen werden. Der Beklagte hat sich danach augenscheinlich insbesondere auch im Verhalten und in seiner Haltung Kolleginnen gegenüber angemessen zurückgenommen und verändert.

40 3. Aufgrund der dennoch bestehenden Schwere des innerdienstlichen Dienstvergehens, das zu einer erheblichen Beeinträchtigung des Ansehens und Vertrauens insbesondere bezüglich der Anwärterausbildung führte, ist eine Zurückstufung um zwei Stufen angemessen, aber auch erforderlich. Sie entspricht zudem Verhältnismäßigkeitserwägungen.
41 Sexuellen Belästigungen im Dienst, insbesondere bei der Ausbildung gegenüber Anwärterinnen und Anwärtern, ist mit sehr deutlichen Disziplinarmaßnahmen nicht nur zur jeweiligen Pflichtenmahnung, sondern auch zur Wahrung bzw. Wiederher­stellung des Ansehens des Berufsbeamtentums im Allgemeinen und der Ausbildung im Speziellen zu begegnen.
42 Einer Zurückstufung bis ins Eingangsamt bedarf es unter Würdigung der Einzelfallumstände nicht.
43 V. Angesichts dessen, dass das bereits am .... April 2018 eingeleitete Disziplinarverfahren, dem – auch vor dem Hintergrund der Aussetzung während des Strafverfahrens – jedoch noch keine derart lange Dauer zukommt, dass die Dauer als eigenständig mildernder Aspekt zu berücksichtigen wäre, nach den Ausführungen im Persönlichkeitsbild erkennbar bereits pflichtenmahnenden Charakter, aber auch entsprechende Belastung entfaltet hat, hat das Gericht unter Berücksichtigung der besonderen Einzelfallumstände von der Möglichkeit der Verkürzung der Beförderungssperre nach Art. 10 Abs. 3 Satz 2 BayDG Gebrauch gemacht.



Anmerkung: § 3 Abs. 4 AGG ächtet "unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexuelle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell bestimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen gehören".

Wenn es zu körperlichen Berührungen kommt, beachten Sie bitte § 184 i StGB:

§ 184 i StGB: Sexuelle Belästigung
(1) Wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn nicht die Tat in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.
(2) In besonders schweren Fällen ist die Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird.
(3) Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, dass die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält.



Hinweis auf eine einen Soldaten betreffende Entscheidung:

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 04.03.20 - BVerwG 2 WD 3.19E -

Leitsätze:


1.  Begeht ein Soldat wiederholt disziplinarisch relevante verbale sexuelle Belästigungen mit Hilfe sozialer Medien und verbindet er damit unaufgefordert die Versendung pornographischer Fotos, handelt es sich regelmäßig um keine leichte sexuelle Belästigung, sodass die Herabsetzung im Dienstgrad den Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen bildet.

2. Der Zeitraum zwischen Einlegung der Berufung und Vorlage der Berufungsakten beim Bundesverwaltungsgericht durch den Bundeswehrdisziplinaranwalt ist bei der Bestimmung der angemessenen Verfahrensdauer einzubeziehen.


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A. Grundlagen Dienstvergehen: Einführung Gesetzesgrundlage Pflichtenverstoß innerdienstlich/außerdienstlich? Bagatelle kein Dienstvergehen Einheit des Dienstvergehens Versuch des Dienstvergehens Schuldfähigkeit Schuldunfähigkeit Verminderte Schuldfähigkeit? BVerwG 2 c 59.07
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