Verhaltensbedingte Kündigung im Arbeitsrecht wg. Internetsurfens
Ein Beispiel für einen schuldhaften Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten, der eine Kündigung rechtfertigen kann: das unerlaubte Surfen im Internet.
Sie dürfen uns übrigens gerne entgegenhalten, dass die zitierte Entscheidung schon fast zehn Jahre alt ist und sich in der Zwischenzeit viele Gerichte zu der Problematik geäußert haben. Hier geht es nur darum, bestimmte Verhaltensweisen einmal zu beleuchten.
Zu vielen der beispielhaft erwähnten Verhaltensweisen ist übrigens zu sagen, dass sie uns bisweilen auch im Disziplinarrecht der Beamten beschäftigen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 07.07.05 - 2 AZR 581/ 04
Ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung kann vorliegen, wenn der Arbeitnehmer das Internet während der Arbeitszeit zu privaten Zwecken in erheblichem zeitlichen Umfang ("ausschweifend") nutzt und damit seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt.
Ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung kann vorliegen, wenn der Arbeitnehmer das Internet während der Arbeitszeit zu privaten Zwecken in erheblichem zeitlichen Umfang ("ausschweifend") nutzt und damit seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt.
Im Streit ist die Wirksamkeit einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung wegen unerlaubter privater Nutzung des Internets während der Arbeitszeit mit Zugriff auf pornografische Seiten. Der Kläger ist bei der Beklagten seit 1985 beschäftigt. Zuletzt arbeitete er als Chemikant und so genannter Erstmann (Schichtführer) in der T-Fabrik. Nach der Arbeitsplatzbeschreibung vertritt der Erstmann bei Abwesenheit den Vorarbeiter.
Auf der Intranet-Startseite der Beklagten befindet sich ein Hinweis "Intranet und Internet nur zum dienstlichen Gebrauch". Wird dieser Hinweis angeklickt, erfolgt eine Warnung, dass jeder Zugriff auf Internetseiten mit pornografischem, gewaltverherrlichendem oder rassistischem Inhalt registriert und gespeichert wird und Mitarbeiter, die entsprechende Internetseiten aufrufen, mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen rechnen müssen.
Im Oktober 2002 fielen gestiegene Internet-Nutzungskosten auf. Der werkseigene Ermittlungsdienst stellte für September bis November 2002 einen Zugriff auf Internetseiten mit erotischen und pornografischen Inhalten fest. Ferner war die vom System automatisch angelegte Liste der im Internet angewählten Seiten gelöscht worden.
Bei einer ersten Befragung räumte der Kläger ein, den Rechner im Schichtführer-Zimmer vor allem in den Pausenzeiten öfter privat genutzt zu haben. Er habe im Internet gesurft und vorrangig Seiten mit erotischem Inhalt aufgerufen, manchmal aber auch Seiten, die man als pornografisch bezeichnen könne. In einer zweiten Befragung am 16.12.02 gab er an, er habe sich zeitweise per Internet kurze Videosequenzen mit pornografischem Inhalt sowie einzelne pornografische Bilder angeschaut. Auf die Seiten mit den Videosequenzen sei er mehr oder weniger zufällig gelangt, aus Neugierde habe er sich die Videos mehrmals angeschaut. Der Ermittlungsdienst vermerkte in seinem Abschlussbericht, der Kläger habe nicht abgestritten, von den Anweisungen und Bestimmungen der Beklagten über die Internetnutzung gewusst zu haben. Mit Schreiben vom 17.12.02 hörte die Beklagte den Betriebsrat zur beabsichtigten Kündigung des Klägers an. Der Betriebsrat erhob Bedenken gegen die beabsichtigte fristlose Kündigung und widersprach auch der hilfsweisen ordentlichen Kündigung. Mit Schreiben vom 20.12.02 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers fristlos, hilfsweise fristgemäß zum 31.03.03.
Hiergegen hat sich der Kläger mit seiner Kündigungsschutzklage gewandt. Er vertritt die Auffassung, sein Verhalten rechtfertige ohne Abmahnung nicht die Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Er habe nicht gewusst, dass der Zugang zum Internet den Mitarbeitern nur zu dienstlichen Zwecken gestattet gewesen sei. Er habe keine Kenntnis von den Warnhinweisen auf der Intranet-Startseite gehabt. Er sei nämlich grundsätzlich über die Windows-Schaltfläche und damit über einen anderen Weg in das Internet gelangt. Hinweise, Schulungen oder andere ausdrückliche Anweisungen der Beklagten bezüglich der Internetnutzung habe es nicht gegeben. Er habe lediglich etwa fünf bis fünfeinhalb Stunden privat im Internet gesurft und dabei maximal zwischen 55 und 70 Minuten Seiten mit pornografischem Inhalt aufgerufen. Der Beklagten sei durch seine private Nutzung des Internets kein finanzieller Schaden entstanden.
Das ArbG hat der Kündigungsschutzklage stattgegeben und die Beklagte zur vorläufigen Weiterbeschäftigung des Klägers verurteilt. Das LAG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom LAG zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Die Revision führte zur Aufhebung und Zurückweisung.
Aus den Gründen:
II. Das LAG hat bei der Beurteilung des wichtigen Grundes nicht alle fallrelevanten Umstände berücksichtigt.
1. Im Rahmen von § 626 I BGB ist zunächst zu prüfen, ob ein Sachverhalt ohne die besonderen Umstände des Einzelfalls als wichtiger Kündigungsgrund an sich geeignet ist. Liegt ein solcher Sachverhalt vor, bedarf es der weiteren Prüfung, ob die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile zumutbar ist oder nicht.
2. Schon bei der Prüfung des wichtigen Grundes "an sich" hat das LAG nicht alle fallrelevanten Aspekte berücksichtigt.
a) Das LAG will einen wichtigen Grund "an sich" annehmen, wenn ein Arbeitnehmer entgegen einem ausdrücklichen Verbot oder nach einer einschlägigen Abmahnung das Internet für private Zwecke genutzt habe. Darüber hinaus kommt nach Auffassung des LAG eine außerordentliche Kündigung bei einer privaten Nutzung des Internets nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn eine Nutzung in einem solchen Ausmaß erfolge, dass der Arbeitnehmer nicht annehmen könne, sie sei vom Einverständnis des Arbeitgebers gedeckt.
Entgegen der Auffassung des LAG kommt eine kündigungsrelevante Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflichten jedoch nicht nur in den von ihm skizzierten Fallgestaltungen in Betracht. Eine Verletzung der arbeitsvertraglichen Leistungspflicht sowie anderer vertraglicher Nebenpflichten kann sich auch aus anderen Umständen ergeben. Es kommen bei einer privaten Nutzung des Internets unter anderem in Betracht:
- das Herunterladen einer erheblichen Menge von Daten aus dein Internet auf betriebliche Datensysteme ("unbefugter download"), insbesondere wenn damit einerseits die Gefahr möglicher Vireninfizierungen oder anderer Störungen des - betrieblichen - Betriebssystems verbunden sein können, oder andererseits von solchen Daten, bei deren Rückverfolgung es zu möglichen Rufschädigungen des Arbeitgebers kommen kann, beispielsweise weil strafbare oder pornografische Darstellungen herunter geladen werden;
- die private Nutzung des vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Internetanschlusses als solche, weil durch sie dem Arbeitgeber zusätzliche Kosten entstehen und der Arbeitnehmer die Betriebsmittel unberechtigt in Anspruch genommen hat;
- die private Nutzung des vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Internets während der Arbeitszeit, weil der Arbeitnehmer während des Surfens im Internet zu privaten Zwecken seine arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitsleistung nicht erbringt und dadurch seine Arbeitspflicht verletzt.
b) Das LAG hat insbesondere dem Umstand, dass der Kläger das Internet während der Arbeitszeit privat genutzt und damit seine arbeitsvertragliche Leistungspflicht verletzt hat, keine hinreichende Beachtung geschenkt.
Bei einer privaten Internetnutzung während der Arbeitszeit verletzt der Arbeitnehmer grundsätzlich seine (Hauptleistungs-) Pflicht zur Arbeit. Die private Nutzung des Internets darf die Erbringung der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung nicht erheblich beeinträchtigen. Die Pflichtverletzung wiegt dabei umso schwerer, je mehr der Arbeitnehmer bei der privaten Nutzung des Internets seine Arbeitspflicht in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht vernachlässigt.
aa) Unstreitig ist der Kläger mehrfach seiner Arbeitspflicht nicht nachgekommen. Er hat eingeräumt, fünf bis fünfeinhalb Stunden privat im Internet gesurft zu haben. ...
bb) Ob, wie die Beklagte behauptet, der Kläger auch an anderen Tagen und in noch weit erheblicherem Umfange seine vertragliche Leistungspflicht verletzt hat, hat das LAG nicht festgestellt.
cc) Selbst unter Berücksichtigung möglicher Pausenzeiten des Klägers lässt sich im Ergebnis jedenfalls festhalten, dass der Kläger zumindest an zwei Tagen nicht nur kurzfristig und unerheblich, sondern in einem beträchtlichen zeitlichen Umfang seiner Arbeitspflicht nicht nachgekommen ist, indem er während der Arbeitszeit privat im Internet gesurft hat. Diese Arbeitsvertragspflichtverletzung wird auch nicht dadurch relativiert, dass die Beklagte dem Kläger die private Nutzung des Internets gestattet bzw. diese geduldet hätte. Eine solche Gestattung oder Duldung würde sich nämlich - ohne weitere Erklärungen - allenfalls auf eine private Nutzung im normalen bzw. angemessenen zeitlichen Umfang erstrecken. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn der Kläger in dem konkreten Zeitraum, in dem er das Internet privat genutzt hat, mangels Arbeitsanfall ohnehin untätig gewesen wäre. Dies wäre aber vom Kläger gegebenenfalls zunächst näher darzulegen gewesen.
dd) Weiter ist zu berücksichtigen, dass die Verletzung seiner arbeitsvertraglichen Leistungspflicht umso schwerer wiegt, als zur Tätigkeit des Klägers als Erstmann eine Aufsichtsfunktion gehört. Er hat die Einhaltung von sicherheitsrelevanten Standards zu überwachen. Die Außerachtlassung dieser Aufsichtsfunktion an den genannten Tagen hat das LAG nicht einmal erwähnt.
c) Die unzureichende Berücksichtigung der verletzten Arbeitspflicht bei der Prüfung des wichtigen Grundes durfte das LAG nicht mit dem Hinweis auf eine "sozialadäquate" Nutzung des Internets zu privaten Zwecken während der Arbeitszeit herunterspielen. Zum einen ist nicht ersichtlich, woraus sich eine solche Sozialadäquanz ergeben soll. Zum anderen mag allenfalls eine kurzfristige private Nutzung des Internets während der Arbeitszeit allgemein gerade noch als hinnehmbar angesehen werden, wenn keine ausdrücklichen betrieblichen Verbote zur privaten Nutzung existieren. Bei einer so exzessiven privaten Nutzung des Internets während der Arbeitszeit wie hier lässt sich jedoch auf keinen Fall noch von einem "sozialadäquaten" Verhalten sprechen und eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung negieren.
d) Ähnliches gilt für die vom LAG angeführten Unklarheiten zur privaten Nutzungsberechtigung des Internets. Aus einer möglichen Berechtigung zur privaten Nutzung des Internets folgt noch nicht, dass der Arbeitnehmer das Medium intensiv während der Arbeitszeit nutzen darf. Selbst wenn im Betrieb der Beklagten eine private Nutzung des Internets an sich erlaubt bzw. geduldet wäre, lässt sich daraus nicht zwingend schließen, diese Nutzung dürfe auch während der Arbeitszeit zeitlich unbegrenzt bzw. in erheblichem Umfang und nicht nur außerhalb der Arbeitszeit, beispielsweise während der Pausen, erfolgen.
Dies gilt umso mehr, als die Tätigkeit des Klägers nicht zwangsläufig - wie beispielsweise bei einem Außendienstmitarbeiter - mit einer Nutzung des Internets verbunden ist.
III. Die Entscheidung des LAG stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar. Die außerordentliche Kündigung ist nicht schon unwirksam, weil die Beklagte den Kläger vor ihrem Ausspruch nicht abgemahnt hat.
1. Nicht in allen Fällen einer privaten Nutzung des Internets und damit im Zusammenhang stehender vertraglichen Pflichtverletzungen muss der Arbeitgeber den Arbeitnehmer vorher abgemahnt haben. Es sind zahlreiche Fallgestaltungen denkbar, in denen es einer Abmahnung nicht bedarf.
2. Nutzt der Arbeitnehmer während seiner Arbeitszeit das Internet in erheblichem zeitlichen Umfang privat, so kann er grundsätzlich nicht darauf vertrauen, der Arbeitgeber werde dies tolerieren.
Er muss damit rechnen, dass der Arbeitgeber nicht damit einverstanden ist, wenn sein Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung in dieser Zeit nicht erbringt und gleichwohl eine entsprechende Vergütung dafür beansprucht. Dies gilt selbst dann, wenn der Arbeitgeber keine klarstellende Nutzungsregelungen für den Betrieb aufgestellt hat. Bei einer fehlenden ausdrücklichen Gestattung oder Duldung des Arbeitgebers ist eine private Nutzung des Internets grundsätzlich nicht erlaubt. Weist in diesen Fällen die Nichtleistung der vertraglich geschuldeten Arbeit einen erheblichen zeitlichen Umfang auf, kann der Arbeitnehmer in keinem Fall mit einer Duldung bzw. Gestattung durch den Arbeitgeber ernsthaft rechnen.
Der Arbeitnehmer kann weiter auch nicht damit rechnen, der Arbeitgeber sei, selbst wenn er prinzipiell eine private Nutzung des Internets duldet, damit einverstanden, dass er umfangreiche pornografische Dateien aus dem Internet herunterlädt. Der Arbeitgeber hat ein Interesse daran, von Dritten nicht mit solchen Aktivitäten seiner Mitarbeiter in Verbindung gebracht zu werden.
Deshalb muss es jedem Arbeitnehmer klar sein, dass er mit einer exzessiven Nutzung des Internets während der Arbeitszeit seine arbeitsvertraglichen Haupt- und Nebenpflichten erheblich verletzt. Es bedarf daher in solchen Fällen auch keiner Abmahnung.
IV. Der Rechtsstreit war an das LAG zurückzuverweisen. Der Senat kann in der Sache selbst noch nicht abschließend entscheiden. Es steht noch nicht fest, ob ein wichtiger Grund nach § 626 I BGB bzw. ein verhaltensbedingter Kündigungsgrund nach § 1 II KSchG zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers vorliegt.
Auf Grund der bisherigen Feststellungen des LAG ist zwar eine hinreichende kündigungsrelevante Pflichtenverletzung des Klägers und damit ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung an sich im Prinzip gegeben. Denn unstreitig hat der Kläger an zwei Tagen seine Hauptleistungspflicht in erheblichem zeitlichen Umfang verletzt und seine Aufsichtsfunktion während der privaten Nutzung des Internets erheblich vernachlässigt.
Allerdings muss das LAG noch die notwendige umfassende Interessenabwägung vornehmen. Dabei wird es vor dem Hintergrund der im Wesentlichen beanstandungsfreien bisherigen Dauer des Beschäftigungsverhältnisses und der Position des Klägers als Erstmann mit Aufsichtsfunktionen zunächst die Schwere der Pflichtverletzung zu berücksichtigen haben. Sollte das LAG auf Grund der durchzuführenden Interessenabwägung zu dem Ergebnis kommen, die unstreitigen Pflichtverletzungen reichten in Anbetracht der abzuwägenden Interessen noch nicht als ein Kündigungsgrund für eine außerordentliche oder eine ordentliche Kündigung aus, wird es weiter aufklären müssen, ob der Kläger nicht auch noch an weiteren Tagen - wie die Beklagte behauptet - seine arbeitsvertraglichen Pflichten verletzt hat, indem er während der Arbeitszeit das Internet privat genutzt hat.
Auch wäre weiter festzustellen, in welchem Umfang er an den entsprechenden Tagen zu welchen Zeiten Pause gemacht hat und ob und in welchem Umfang der Kläger seine Aufsichtsfunktion während der privaten Nutzung des Internets vernachlässigt hat.
Das LAG wird bei der vorzunehmenden Interessenabwägung weiter zu berücksichtigen und abzuwägen haben, dass die Beklagte die Nutzungsbedingungen für das Internet zwar nicht eindeutig festgelegt hat, ihr aber durch das Herunterladen von pornografischem Bildmaterial nicht nur Kosten bzw. ein Schaden entstanden sein könnte, sondern sie sich der Gefahr ausgesetzt sehen könnte, in der Öffentlichkeit in ein problematisches Licht gesetzt zu werden. Schließlich wird das LAG auch den Umstand würdigen müssen, dass der Kläger das Internet nicht für unverfängliche private Zwecke genutzt (vergleichbar dem Lesen einer Tageszeitung), sondern sich mit pornografischen Bildern und Videosequenzen während der Arbeitszeit versorgt hat.