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Verwirkung des Rechts auf Anfechtung der dienstlichen Beurteilung


Ein weiteres Beispiel zur Frage der Verwirkung des Rechts zur Anfechtung einer dienstlichen Beurteilung.

Die Entscheidung ergeht im Jahr 2016 im Zusammenhang mit einer Beförderungssauswahl.
Als in diesem Auswahlverfahren wegen des Gleichstandes bei den aktuellen Beurteilungen auf die Vorbeurteilungen zurückgegriffen wird, erhebt die Antragstellerin Widerspruch gegen die ihr vor Jahren eröffnete Vorbeurteilung. Diesen Widerspruch halten die Gerichte nicht mehr für zulässig, sondern für verwirkt.

Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein, Beschluss vom 02.08.16, 2 MB 16/16

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts wird zurückgewiesen.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 13.010,40 Euro festgesetzt.

Gründe
I.
1
Die Antragstellerin begehrt, die Beförderung des Beigeladenen nach Besoldungsgruppe A 12 zu untersagen, solange nicht bestandskräftig über ihre Regelbeurteilung zum Beurteilungsstichtag 01.09.12 entschieden ist.
2
Der Antragsgegner beabsichtigt, den Beigeladenen zum Justizamtsrat in der Gerichtshilfe zu ernennen. Nach den aktuellen dienstlichen Beurteilungen zum Stichtag 01.09.15 hätten die Antragstellerin und der Beigeladene jeweils die Stufe 5 der Leistungsbewertung sowie den Ausprägungsgrad „A" in allen Befähigungsmerkmalen erhalten, so dass zur Entscheidung auf die vorherige Regelbeurteilung aus dem Jahre 2012 zurückgegriffen werden müsse. Danach habe der Beigeladene einen Leistungsvorsprung gegenüber der Antragstellerin. Die Schwerbehinderteneigenschaft der Antragstellerin wäre nur entscheidend gewesen, wenn zwischen der Bewerberin und dem Bewerber eine gleiche Eignung festgestellt worden wäre.
3
Nachdem der Antragsgegner der Antragstellerin mit Schreiben vom 02.12.15 mitgeteilt hatte, dass er den Beigeladenen befördern wolle, erhob die Antragstellerin dagegen Widerspruch und hat zugleich um einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht nachgesucht. Zur Begründung hat sie geltend gemacht, es sei fehlerhaft, entscheidend auf die Regelbeurteilung zum Stichtag 01.09.12 abzustellen, weil diese rechtswidrig sei. Der Umstand ihrer Schwerbehinderung habe in jener Beurteilung keine hinreichende Berücksichtigung gefunden.
4
Am 08.02.16 legte die Antragstellerin gegen die Regelbeurteilung zum Stichtag 01.09.12, die ihr 03.06.13 bekanntgegeben worden war, Widerspruch ein. Diesen wies die Leitende Oberstaatsanwältin in Kiel mit Bescheid vom 14.03.16 mit der Begründung zurück, das Recht der Antragstellerin auf Überprüfung der dienstlichen Beurteilung sei verwirkt. Im Rahmen einer Hilfsbegründung führte sie aus, unabhängig davon sei die Schwerbehinderung der Antragstellerin, die sich lediglich auf die Quantität ihrer Arbeitsleistung auswirke, bei der dienstlichen Beurteilung berücksichtigt worden. Schließlich sei sie im Beurteilungsmerkmal „Bewältigung der übertragenen Aufgaben" mit der höchsten Stufe bewertet worden. Der Bescheid war mit einer Rechtsmittelbelehrung versehen, wonach Widerspruch erhoben werden könne.
5
Mit Beschluss vom 26.05.016, zugestellt am 09.06.16 hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Begründung abgelehnt, die Antragstellerin habe einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Wegen des Gleichstandes in der aktuellen Beurteilung habe der Antragsgegner zu Recht die Vorgängerbeurteilungen zum Beurteilungsstichtag 01.09.12 als zusätzliches Kriterium herangezogen. Zwar habe die Antragstellerin ihre Beurteilung angefochten. Unabhängig davon, ob die Antragstellerin ihr Widerspruchsrecht gegen diese Beurteilung verwirkt habe, sei aber maßgeblich, dass die Beurteilung nicht offensichtlich fehlerhaft sei; denn nur dann könne sie keine ausreichende Entscheidungsgrundlage darstellen. Die Beurteilung zum Stichtag 01.09.12 sei nicht offensichtlich fehlerhaft, weil der Antragsgegner die Schwerbehinderung der Antragstellerin entgegen ihrem Vortrag berücksichtigt habe.
6
Mit der gegen den Beschluss eingelegten Beschwerde macht die Antragstellerin geltend, die vorletzte dienstliche Beurteilung aus dem Jahre 2012 sei rechtswidrig, weil diese nicht erkennen lasse, dass sich der Beurteiler bei der Bewertung der einzelnen Leistungsmerkmale und bei der Befähigungsbewertung des Umstandes bewusst gewesen sei, dass sie - die Antragstellerin - schwerbehindert sei. Auch der Grad ihrer Behinderung sei nicht berücksichtigt worden. Das „Ankreuzen“ des Vorliegens einer Schwerbehinderung reiche nicht aus, den Vorgaben der Schwerbehindertenrichtlinien gerecht zu werden. Auf die Frage, ob der Widerspruch gegen die dienstliche Beurteilung verfristet oder verwirkt sei, komme es nicht an, wenn man der zutreffenden Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt folgte, wonach die vorletzte dienstliche Beurteilung im Rahmen der Konkurrentenklage bzw. des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auch dann inzident überprüft werden könne, wenn sie bestandskräftig geworden sei.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts vom 26.05.16 zu ändern und dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu untersagen, die ausgeschriebene Stelle - fliegend - der Besoldungsgruppe A 12 für eine Justizamtsrätin bzw. einen Justizamtsrat im Sozialdienst in der Gerichtshilfe bei den Staatsanwaltschaften mit dem Beigeladenen zu besetzen, so lange nicht über ihre - der Antragstellerin - Bewerbung bestandskräftig entschieden ist.

Der Antragsgegner beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

II.
12
Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist unbegründet.
...

16
Ein bei der Beförderungsauswahl unterlegener Bewerber muss seinen Anspruch aus Art. 33 Abs. 2 GG durch vorläufigen Rechtsschutz wirksam sichern können. Art. 19 Abs. 4 GG garantiert eine effektive gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.10.1999 - 1 BvR 385/90 -, BVerfGE 101, 106 <122 f.> m.w.N.; stRspr). Einstweiliger Rechtsschutz ist deswegen unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Bewerbungsverfahrensanspruchs zu gewähren. Ein abgelehnter Bewerber, dessen subjektives Recht aus Art. 33 Abs. 2 GG durch eine fehlerhafte Auswahlentscheidung des Dienstherrn verletzt worden ist, kann eine erneute Entscheidung über seine Bewerbung zumindest dann beanspruchen, wenn seine Erfolgsaussichten bei einer erneuten Auswahl offen sind, seine Auswahl also möglich erscheint. Dieser Prüfungsmaßstab ist wie im Hauptsacheverfahren auch bei seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung anzulegen. ...
17
Auch unter Zugrundelegung dieses Maßstabs erscheint die Auswahl der Antragstellerin bei einer erneuten Entscheidung des Dienstherrn wegen eines Leistungsvorsprungs des Beigeladenen nicht möglich. ...
18
Die Antragstellerin dringt mit ihrer Beschwerdebegründung nicht durch, die Regelbeurteilung zum Stichtag 01.09.12 sei fehlerhaft, weil der Umstand der Schwerbehinderung nicht hinreichend berücksichtigt worden sei. Die Antragstellerin kann mit diesem Einwand schon deshalb nicht gehört werden, weil der Widerspruch verspätet war. Ihre Widerspruchsbefugnis gegen die vorangegangene Regelbeurteilung 2012 war bei Erhebung des Widerspruchs am 08.02.16 verwirkt.
19
Da die dienstliche Beurteilung kein Verwaltungsakt ist, weil es am Regelungscharakter fehlt, finden auch die Vorschriften des 8. Abschnitts der Verwaltungsgerichtsordnung über den Lauf der Widerspruchsfrist (§ 70 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 sowie § 58 Abs. 2 VwGO) keine Anwendung auf Widersprüche von Beamten, die gemäß § 126 Abs. 1 und Abs. 3 Nr. 1 BRRG i.V.m. § 63 Abs. 3 Satz 2 BeamtStG einer allgemeinen Leistungsklage oder einer Feststellungsklage aus dem Beamtenverhältnis vorgeschaltet sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 04.06.14 - BVerwG 2 B 108.13 - Rn. 11 m.w.N.). Daher kann ein sog. Feststellungs- oder Leistungswiderspruch nur dann als verspätet verworfen werden, wenn der Beamte bei der Erhebung die Widerspruchsbefugnis verwirkt hat. Dies ist anzunehmen, wenn er innerhalb eines längeren Zeitraums unter Verhältnissen untätig geblieben ist, unter denen bei vernünftiger Betrachtung etwas zur Wahrung der Rechtsstellung unternommen zu werden pflegt. Die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO bietet hierfür eine zeitliche Orientierung, ihre Einhaltung stellt aber keine Voraussetzung für die Zulässigkeit des Widerspruchs dar (vgl. BVerwG, Beschluss vom 04.06.14, a.a.O., Rn. 11 m.w.N.).
20
Die Antragstellerin hat den Anschein erweckt, sie erkenne die Beurteilung 2012 an; denn sie hat bis zur Erstellung der nächsten Regelbeurteilung zum Stichtag 2015 die Vorgängerbeurteilung nicht beanstandet. Sie hat nach Aushändigung der aktuellen Beurteilung sogar noch vier weitere Monate gewartet, bis sie Widerspruch gegen die vorangegangene Beurteilung erhoben hat, mithin zwei Jahre und acht Monate nach deren Bekanntgabe. Zudem hat sie sich vor Erhebung des Widerspruchs um die ausgeschriebene Stelle beworben.
21
Entgegen dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nichts anderes unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt. Auch danach sei der Möglichkeit, Einwendungen gegen eine dienstliche Beurteilung noch in einem verwaltungsgerichtlichen Konkurrentenstreitverfahren anbringen zu können, eine Grenze durch den Grundsatz von Treu und Glauben gezogen, der auch im Beamtenrecht anwendbar ist - insbesondere in Form der Verwirkung - (OVG Sachsen- Anhalt, Beschluss vom 15.09.14 - 1 M 76/14 -, Rn. 45, 46). Insoweit stelle das Zeitintervall, in dem für den jeweils betroffenen Beamten eine Regelbeurteilung zu erstellen sei, den Maßstab dar, ab wann der Dienstherr üblicherweise nicht mehr mit Einwendungen gegen eine dienstliche Beurteilung zu rechnen brauche. Denn bei einem regelmäßigen Beurteilungsrhythmus - wie vorliegend - dürfe die zur Entscheidung über Beförderungen berufene Behörde grundsätzlich davon ausgehen, dass der betroffene Beamte eine frühere Beurteilung hingenommen habe, wenn er hiergegen innerhalb des allgemeinen Beurteilungszeitraums keine rechtlichen Schritte unternommen habe (OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 03.07.12 - 1 M 67/12 -, Rn. 9; Beschluss vom 23.01.14 - 1 L 138/13 -, Rn. 12; Beschluss vom 15.09.14 - 1 M 76/14 -, Rn. 47).
22
Darüber hinaus dürfte die dienstliche Beurteilung zum 01.09.12 auch im Einklang stehen mit den Schwerbehindertenrichtlinien, insbesondere mit den unter Nr. 6.1 getroffenen Regelungen zur dienstlichen Beurteilung.
...
23
Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass auf den Widerspruch der Antragstellerin gegen die Beurteilung ein Widerspruchsbescheid hätte ergehen müssen, gegen den die Klage zum Verwaltungsgericht eröffnet wäre. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 30.10.13 - BVerwG 2 C 23.12 - Rn. 14 ff., insbes. Rn. 22 f., zum beamtenrechtlichen Schadensersatzanspruch; anders vorgehend OVG NRW, Urteil vom 24.10.12 - 1 A 1938/10 -) folgt aus der durch § 126 Abs. 3 Satz 1 BRRG angeordneten Konzentration der vorgerichtlichen Auseinandersetzungen auf das Widerspruchsverfahren, dass der Beamte einem Leistungs- oder Feststellungswiderspruch keinen Antrag vorschalten muss. Ein derartiger Antrag - etwa auf Änderung der dienstlichen Beurteilung -, gegen dessen abschlägige Bescheidung der Beamte Widerspruch einlegen müsste, ist weder nach § 126 Abs. 3 Satz 1 BRRG noch nach einer sonstigen Vorschrift des Prozessrechts oder aufgrund der beamtenrechtlichen Treuepflicht geboten (BVerwG, Urteil vom 28.06.01 - BVerwG 2 C 48.00 - Rn. 16; Beschluss vom 18.06.09 - BVerwG 2 B 64.08 - Rn. 5). Daher sind Rechtsbehelfe von Beamten ungeachtet ihrer Bezeichnung als Antrag, Beschwerde u.a. rechtsschutzorientiert als Widerspruch zu werten, soweit dies nach den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen vertretbar erscheint. Hier hat die Antragstellerin sogar ausdrücklich Widerspruch eingelegt.
...


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