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Disziplinarrecht: Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens

Die nachfolgende Entscheidung beleuchtet zwei grundsätzliche Fragen des Disziplinarrechts, die oft miteinander verwoben sind:
Nach dem Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens sollen (möglichst) sämtliche Verfehlungen des Beamten zusammen die Grundlage für die Entscheidung über eine zu verhängende Disziplinarmaßnahme bilden.
Doch die Verfahren kollidieren dann mit dem sog. Beschleunigungsgebot, weil sie sich unter Umständen durch immer wieder neue Vorwürfe, die zunächst aufzuarbeiten sind, ins Unendliche verlängern.
Hierzu äußert sich das Gericht auf der Grundlage des Landesdisziplinargesetzes Baden-Württemberg, das natürlich nicht unmittelbar für Bundesbeamte gilt.
Die Erwägungen des Gerichts lassen sich aber gut übertragen.

VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.11.16 - DL 13 S 1510/16 -

Leitsatz
1. Die sechsmonatige Antragsfrist nach § 37 Abs. 3 Satz 1 LDG berechnet sich auch bei Ausdehnung des Disziplinarverfahrens um weitere Tathandlungen nach dem Zeitpunkt der Einleitung des Disziplinarverfahrens. (Rn.2)

2. Der Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens enthält unter Geltung des LDG kein striktes verfahrensrechtliches Gebot der gleichzeitigen Entscheidung über mehrere Pflichtverstöße. (Rn.8)

3. Ihm ist dadurch materiell-rechtlich Geltung zu verschaffen, dass bei der Entscheidung im letzten von mehreren aufeinanderfolgenden Verfahren bei der Bestimmung der angemessenen Disziplinarmaßnahme eine einheitliche Würdigung des gesamten Dienstvergehens vorauszugehen hat (im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 14.02.07 - 1 D 12/05 -). (Rn.8)

Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 28.07.16 - DL 10 K 2205/16 - geändert. Dem Antragsgegner wird aufgegeben, das gegen den Antragsteller eingeleitete Disziplinarverfahren bis zum 15.02.17 abzuschließen. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Gründe

1
Die Beschwerde hat Erfolg. Auf den Antrag des Antragstellers ist gemäß § 37 Abs. 3 Satz 2 LDG eine Frist zum Abschluss des mit Verfügung vom 01.12.15 eingeleiteten und unter dem 29.06.16 ausgedehnten Disziplinarverfahrens zu bestimmen.
2
Der Antrag des Antragstellers ist nach § 37 Abs. 3 LDG zulässig. Nach dieser Vorschrift kann der Beamte bei dem Verwaltungsgericht beantragen, eine Frist zum Abschluss des Disziplinarverfahrens zu bestimmen, wenn dieses Verfahren innerhalb von sechs Monaten seit der Einleitung nicht abgeschlossen ist. Dies ist vorliegend der Fall, nachdem das Disziplinarverfahren bereits mit Verfügung vom 01.12.15 gegen den Antragsteller eingeleitet und nach knapp einem Jahr noch nicht abgeschlossen worden ist. Maßgeblich für die Berechnung der Sechsmonatsfrist ist nach dem Wortlaut der Vorschrift der Zeitpunkt der Einleitung des Disziplinarverfahrens, so dass die unter dem 29.06.16 verfügte Ausdehnung des Disziplinarverfahrens um weitere Tathandlungen (§ 10 Abs. 3 LDG) hierauf keinen Einfluss hat (so auch Düsselberg, in: von Alberti/ Burr/Düsselberg/Eckstein/Nonnenmacher/ Wahlen, Landesdisziplinarrecht Baden-Württemberg, 2. Auflage, § 37 RdNr. 22).
3
Der Antrag auf gerichtliche Fristsetzung ist auch begründet. Gemäß § 37 Abs. 3 Satz 2 LDG bestimmt das Gericht eine Frist, in der das Verfahren abzuschließen ist, wenn ein zureichender Grund für den Abschluss des Verfahrens nicht vorliegt. Dies ist hier der Fall.
4
Der Gesetzgeber geht in § 37 Abs. 3 Satz 1 LDG typisierend davon aus, dass es unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes regelmäßig möglich ist, ein Disziplinarverfahren auch unter Erhebung der erforderlichen Beweise innerhalb von sechs Monaten abzuschließen (vgl. Beschluss des Senats vom 04.08.15 - DL 13 S 1432/15 -, juris). Allerdings ist der bloße Ablauf dieser Frist allein nicht ausreichend, den Fristsetzungsantrag für begründet zu erachten. Vielmehr bedarf es gemäß § 37 Abs. 3 Satz 2 LDG stets der Prüfung, ob ein zureichender Grund dafür vorliegt, dass das Verfahren nach Ablauf einer Dauer von sechs Monaten noch nicht abgeschlossen ist. Ob ein solcher Grund für die Verfahrensdauer vorliegt, bestimmt sich nach dem Umfang des Verfahrensstoffs, dessen Schwierigkeitsgrad, der Zahl und der Art der zu erhebenden Beweise sowie sonstiger Umstände des Verfahrens. Ein zureichender Grund für den fehlenden Verfahrensabschluss liegt dann nicht vor, wenn eine gewisse Zeitspanne von einiger Dauer verstrichen ist, die bei effektiver Nutzung für die Aufklärung und den Abschluss des Verfahrens nicht erforderlich gewesen wäre; einzelne ungenutzte Tage fallen dabei nicht ins Gewicht. Weiter muss ein „verfahrensrechtliches Verschulden“ der Disziplinarbehörde oder sonstiger beteiligter Stellen an der Verfahrensverzögerung hinzukommen (vgl. Beschluss des Senats vom 04.08.15, a.a.O.).
5
Vor diesem Hintergrund ist kein zureichender Grund dafür gegeben, warum zum maßgeblichen Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung das gegen den Antragsteller bereits im Dezember 2015 eingeleitete Disziplinarverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Von seinem Schwierigkeitsgrad sowie dem Umfang und Aufwand der durchzuführenden Ermittlungen und Beweiserhebungen vermag der Senat nicht zu erkennen, warum das Verfahren bei effektiver und den Beschleunigungsgrundsatz (zur Geltung des wenn auch nicht als Programmsatz normierten Beschleunigungsgrundsatzes unter dem Regelungsregime des LDG: amtliche Begründung zum LDG, LTDrs. 14/2996, S. 107) berücksichtigender Verfahrensgestaltung noch nicht hätte abgeschlossen sein können. Dabei berücksichtigt der Senat durchaus, dass die Sichtung und Auswertung der E-Mailkorrespondenz und der auf dem Mobiltelefon des Antragstellers gespeicherten Daten, wie sie von dem Antragsgegner vorgenommen wurden, eine erhebliche Zeitspanne in Anspruch genommen haben. Hinzu kommen die umfangreichen Zeugenvernehmungen, die allerdings nach Aktenlage nunmehr abgeschlossen sein dürften. Das Disziplinarverfahren ist zumindest in der Folgezeit nicht in einer effektiven und dem Grundsatz der Beschleunigung gerecht werdenden Weise betrieben worden.
6
Der Antragsgegner führt hierzu aus, dass vor Abschluss des Strafverfahrens wegen Beleidigung (nach Aktenlage liegt ein Strafbefehlsantrag vom 06.09.16 vor) ein Abschluss des Disziplinarverfahrens in der Folgezeit ausgeschlossen sei. Diese Argumentation überzeugt bereits deshalb nicht, weil der Antragsgegner durchgehend davon ausgegangen ist, dass der Schwerpunkt der Ermittlungen nicht auf der strafrechtlichen Beurteilung, sondern auf der Ahndung des dienstlichen Fehlverhaltens gegenüber PHM ... liegen solle und der disziplinare Überhang gewürdigt werden müsse. Folgerichtig wurde auch das Disziplinarverfahren nicht nach § 13 Abs. 1 Satz 1 LDG ausgesetzt. So heißt es bereits in der Einleitungsverfügung vom 01.12.15, dass wegen des disziplinarrechtlichen Überhangs von der im Ermessen der Behörde liegenden Aussetzungsmöglichkeit kein Gebrauch gemacht werde. Es ist deshalb nichts dafür ersichtlich, weshalb der Ausgang des Strafverfahrens gleichwohl abgewartet werden sollte. Hierdurch verzögert sich die Fortsetzung des Disziplinarverfahrens unnötig.
7
Soweit sich der Antragsgegner am Abschluss des Disziplinarverfahrens durch das unter dem 22.06.16 gegen den Antragsteller eingeleitete strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Verletzung von Privatgeheimnissen (§ 203 StGB), der Verletzung eines Dienstgeheimnisses (§ 353b StGB) und des Verstoßes gegen § 40 Abs. 1 Nr. 1a und c LDSG gehindert sieht, rechtfertigt dies ebenfalls nicht die verzögerte Erstellung des Ermittlungsberichts. Zwar wurde mit Verfügung vom 29.06.16 das bisherige Disziplinarverfahren auf diese Vorwürfe ausgedehnt. Dies erlaubt es aber dem Antragsgegner nicht, ohne förmliche Aussetzung nach § 13 Abs. 1 LDG das Disziplinarverfahren nicht fortzuführen. Wie der Antragsgegner vorträgt, soll „erst nach Abschluss des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens in dieser Sache das Disziplinarverfahren in Bezug auf diesen Sachverhalt umgehend wieder aufgenommen und nach Abschluss der disziplinarrechtlichen Ermittlungen ein beide Sachverhaltskomplexe umfassender abschließender Ermittlungsbericht durch den Ermittlungsführer gefertigt“ werden. Damit stellt sich der Antragsgegner auf den Standpunkt, dass erst nach Abschluss des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens oder des Strafverfahrens (?) - wohl in beiden Sachverhaltskomplexen - der Ermittlungsbericht erstellt werden soll (S. 3 der Beschwerdeerwiderung vom 24.08.16). Im Schriftsatz des Antragsgegners vom 12.09.16 ist sogar vom Abwarten auf den rechtskräftigen Ausgang der anhängigen Strafverfahren die Rede. Eine solche Vorgehensweise sieht das LDG nicht vor. Sie ist auch schuldhaft, weil das Abwarten des Ausgangs der Strafverfahren ohne förmliche Aussetzung gegen den Beschleunigungsgrundsatz verstößt.
8
Nur ergänzend weist der Senat darauf hin, dass sich nach Inkrafttreten des LDG kein striktes verfahrensrechtliches Gebot der gleichzeitigen Entscheidung über mehrere Pflichtverstöße mehr herleiten lässt. Wie das Bundesverwaltungsgericht für den Geltungsbereich des Bundesdisziplinargesetzes in Modifizierung seiner Rechtsprechung unter Geltung der Bundesdisziplinarordnung entschieden hat (Urteil vom 14.02.07 - 1 D 12/05 -, BVerwGE 128, 125; Beschluss vom 29.07.09 - 2 B 15/09 -, NVwZ-RR 2009, 815), ist dem Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens nicht mehr vorwiegend oder gar ausschließlich durch bestimmte Verfahrensweisen Rechnung zu tragen. Ihm ist vielmehr materiell - rechtlich in der Form Geltung zu verschaffen, dass bei der Entscheidung im letzten von mehreren aufeinanderfolgenden Verfahren bei der Bestimmung der angemessenen Disziplinarmaßnahme eine einheitliche Würdigung des gesamten Dienstvergehens vorauszugehen hat. Diese Rechtsprechung lässt sich auf die Regelungen des Landesdisziplinargesetzes übertragen. Wie aus § 77 BBG für Bundesbeamte lässt sich auch aus § 47 BeamtStG für Landesbeamte der Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens ableiten. Er wird jedoch in verfahrensrechtlicher Hinsicht eingeschränkt durch die gesetzlichen Regelungen beispielsweise in § 10 Abs. 1 LDG (Ausdehnung auf weitere Vorwürfe), § 10 Abs. 2 Satz 1 LDG (Ausscheiden von Handlungen, die für die Bemessung der Disziplinarmaßnahme nicht ins Gewicht fallen) oder auch durch § 10 Abs. 2 Satz 2 LDG, wonach ausgeschiedene Handlungen wieder in das Disziplinarverfahren einbezogen werden können. Auch in diesen Fällen ist materiell - rechtlich dem Grundsatz der Einheit des Dienstvergehens Rechnung zu tragen. Der Beamte darf im Ergebnis nicht schlechter gestellt werden als er im Falle einer gleichzeitigen einheitlichen Ahndung des Dienstvergehens stünde.
9
Liegt somit kein zureichender Grund für den fehlenden Abschluss des Disziplinarverfahrens vor, ist dem Antrag stattzugeben und eine Frist zu bestimmen, in der das Verfahren abzuschließen ist. Die Bemessung der Frist liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Senats (vgl. dazu: Beschluss des Senats vom 04.08.15, a.a.O.).
10
Bei der Bemessung der dem Antragsgegner gemäß § 37 Abs. 3 Satz 2 LDG zu setzenden Frist für den Abschluss des Disziplinarverfahrens hat der Senat eine summarische Beurteilung des weiteren Aufklärungsaufwandes vorzunehmen und dabei den Besonderheiten des Falls, hier auch der Ausdehnung des Disziplinarverfahrens um weitere Tathandlungen, Rechnung zu tragen. Dabei ist einerseits eine ordnungsgemäße abschließende Bearbeitung zu gewährleisten, andererseits das Interesse des Beamten an einem baldigen Abschluss des Verfahrens zu berücksichtigen. Zweck der Fristsetzung kann es demnach nicht sein, auf die am Verfahren Beteiligten derart Druck auszuüben, dass eine, auch im Interesse des Beamten liegende sorgfältige Sachaufklärung bei Fristeinhaltung möglicherweise unterbleiben müsste. Andererseits soll die Frist vor dem Hintergrund des Beschleunigungsgrundsatzes im Zweifelsfall durchaus knapp bemessen sein (vgl. dazu: Beschluss des Senats vom 04.08.15, a.a.O. m.w.N.). Dies berücksichtigend hält der Senat eine Frist bis zum 15.02.17 für sachgerecht, um einen Abschluss des Disziplinarverfahrens zu erreichen.
11
Wird das Verfahren nicht innerhalb der genannten Frist abgeschlossen, stellt es die Disziplinarbehörde ein. Allerdings besteht nach § 37 Abs. 3 Satz 3 LDG die Möglichkeit, auf Antrag des Dienstherrn die Frist zu verlängern, wenn dieser sie aus Gründen, die er nicht zu vertreten hat, voraussichtlich nicht einhalten kann.
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