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Durchsuchungen im Disziplinarrecht

Wie aus der nachstehenden Entscheidung ersichtlich, handelt es sich um eher seltene Ermittlungshandlungen des Disziplinarrechts. Schon der erste Leitsatz der Entscheidung beschränkt Beschlagnahmen und Durchsuchungen auf die schweren disziplinarrechtlichen Fälle.
Allerdings tragen die manchmal ein wenig hemdsärmelig agierenden Ermittlungsführer nicht immer eine Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts unter dem Arm.
Und im Übrigen versuchen sie natürlich bisweilen, den Betroffenen zu überrumpeln und seine Zustimmung zu erbitten ...

Nein, bleiben Sie standhaft!
Und falls man Ihnen einen gerichtlichen Beschluss vorhält: erwägen Sie, nach der Maßnahme alsbald das Bundesverfassungsgericht anzurufen!


Zur Zulässigkeit von Beschlagnahme und Durchsuchung im Disziplinarverfahren

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 21.06.06, 2 BvR 1780/04

1. Im Disziplinarverfahren kommen Beschlagnahme und Durchsuchung nur dann in Betracht, wenn eine Zurückstufung oder die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis zu erwarten ist. Die Zwangsmaßnahmen müssen jedenfalls dann als unverhältnismäßig eingestuft werden, wenn das mutmaßliche Dienstvergehen nur einen Verweis oder eine Geldbuße nach sich ziehen würde.

2. Die zu Art. 13 GG entwickelten Grundsätze finden auch bei disziplinarrechtlichen Vorermittlungen Anwendung. Vor der Anwendung von Zwangsmaßnahmen sind zunächst mildere Mittel zur Aufklärung des Tatverdachts in Betracht zu ziehen.


Der Beamte, dessen Verfassungsbeschwerde Erfolg hat, ist Polizeihauptkommissar in Sachsen-Anhalt. Im Mai 2004 leitet der Polizeipräsident disziplinarrechtliche Vorermittlungen gegen ihn ein. Es bestehe der Verdacht eines Dienstvergehens. Hintergrund sei eine im MDR ausgestrahlte Fernsehsendung der Reihe "Umschau", in der die Behauptung aufgestellt worden sei, die Verkehrsüberwachung finde vielfach nur zum "Abzocken" und nicht an tatsächlichen Unfallschwerpunktstellen statt. Zur Begründung seien in dem Fernsehbeitrag Zielvereinbarungen einer Polizeidirektion eingeblendet worden, in denen auf die Erhöhung der monatlichen Auslastung der Lasergeschwindigkeitsmessgeräte sowie die Steigerung der Gesamtzahl der Ahndungen Bezug genommen wurde. Ein als Dienststellenleiter und "unser Insider" ausgewiesener Beamter habe sich dabei mit abgedunkeltem Gesicht und verzerrter Stimme negativ über den Abschluss von Zielvereinbarungen geäußert und kritisiert, dass die Behördenleitung auf diesem Wege von den Mitarbeitern Leistung abfordere.

Der Verdacht richte sich gegen den Beamten, weil verschiedene Mitarbeiter unabhängig voneinander zu der Auffassung gekommen seien, bei dem anonymisierten Dienststellenleiter handle es sich um ihn. .... Überdies habe eine Auswertung des im Fernsehbeitrag erkennbaren Umfeldes des Drehortes ergeben, dass dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Wohnung des Beamten mit Blick durch eine geöffnete Balkontür gedreht worden sei. Die Balustrade des Balkons, das Dach eines gegenüberliegenden Pavillons, erkennbare Dachgauben eines markanten Mehrfamilienhauses und anderes ließen mit hoher Wahrscheinlichkeit den Schluss zu, dass der Fernsehbeitrag in der Wohnung des Beamten aufgezeichnet worden sei.
Die Art und Weise des Auftretens und der Äußerung des Beamten sei geeignet, Zielvereinbarungen als Instrument moderner Führungssysteme sowie die Verkehrsüberwachung als polizeiliche Maßnahme an sich zu diskreditieren und sie als gegenüber der Bevölkerung und den Polizeibeamten unredlich und schädlich darzustellen. Nachdem die Identifizierung durch die Zeugenaussagen von mehreren befragten Kollegen bestätigt wurde, beantragte der Ermittlungsführer die Durchsuchung der Wohnung, um die im Fernsehbeitrag sichtbaren Gegenstände (Polstersofa, Blumenetagere, Fußbodenbelag, Barhocker, Fasermatte, Sockelleiste) mit den dort befindlichen Gegenständen zu vergleichen und eine Videoaufnahme aus der Wohnung mit Blickrichtung Innenhof anzufertigen. Auch die Beschlagnahme etwa aufzufindender Zielvereinbarungen sei erforderlich, weil die eingeblendeten Stellen aus den Zielvereinbarungen der Polizeireviere A. und H. entnommen worden seien und diese dem Beamten offiziell nicht zur Verfügung stünden. Das Amtsgericht erließ den beantragten Beschluss. Die Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss verwarf das LG Magdeburg durch Beschluss vom 21.07.04.

Die dagegen erhobene Verfassungsbeschwerde hat Erfolg.

Aus den Gründen:
III. ...
2.

a) Hinsichtlich der Entscheidung des LG Magdeburg ist die Verfassungsbeschwerde zulässig. Hinsichtlich der Durchsuchung kommt dem Beschwerdeführer trotz der Erledigung der richterlichen Anordnung angesichts der Schwere der Grundrechtsbeeinträchtigung ein Rechtsschutzinteresse an der Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen zu (vgl. BVerfGE 96, 27 [39 f.] = NJW 1997,2163).

b) Insoweit ist die Verfassungsbeschwerde auch begründet. Die Durchsuchung der Wohnung ist mit Art. 13 I und II GG unvereinbar.

aa) Art. 13 I GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Damit wird dem Einzelnen zur freien Entfaltung der Persönlichkeit ein elementarer Lebensraum gewährleistet. In seinen Wohnräumen hat er das Recht, in Ruhe gelassen zu werden. In diese grundrechtlich geschützte Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein. Dem Gewicht dieses Eingriffs und der verfassungsrechtlichen Bedeutung des Schutzes der räumlichen Privatsphäre entspricht es, dass Art. 13 II GG die Anordnung einer Durchsuchung grundsätzlich dem Richter vorbehält und damit eine vorbeugende Kontrolle der Maßnahme durch eine unabhängige und neutrale Instanz vorsieht (vgl. BVerfGE 20, 162 [223] = NJW 1966,1603; BVerfGE 57,346 [355 f.] = NJW 1981, 2111; BVerfGE 76, 83 [91] = NJW 1987, 2499; BVerfGE 103, 142 [150 f] = NJW 2001, 1121). Die Einschaltung des Richters soll dabei insbesondere dafür sorgen, dass die Interessen des Betroffenen angemessen berücksichtigt werden. Besondere Bedeutung kommt dabei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu, weil nur so im Einzelfall die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs sichergestellt werden kann. Der Richter darf die Wohnungsdurchsuchung nur anordnen, wenn er sich auf Grund einer eigenverantwortlichen Prüfung der Ermittlungen davon überzeugt hat, dass die Maßnahme verhältnismäßig ist (vgl. BVerfGE 96, 44 [51] = NJW 1997, 2165). Dies ist nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen oder der Eingriff nicht mehr in angemessenem Verhältnis zur Stärke des Tatverdachts und zur Schwere der Tat steht (vgl. BVerfGE 42, 212 [220] = NJW 1976, 1735; BVerfGE 59, 95 [97]). Dieses Verhältnis ist nicht mehr gewahrt, wenn allenfalls die Verhängung einer geringfügigen Geldbuße zu erwarten ist (vgl. BVerfG NJW 1999, 2176). Die genannten Grundsätze finden auch im Bereich disziplinarrechtlicher Vorermittlungen Anwendung. Sie haben dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen und sind daher möglichst schonend zu führen. "Überschießende" Aufklärungen sind zu unterlassen, um den Kreis der vom Disziplinarvorwurf informierten Personen möglichst eng zu halten. In Anbetracht der Belastung, die die Ermittlungsmaßnahme selbst für den Betroffenen bedeuten kann, ist schon im Vorfeld eine Abwägung mit dem Gewicht des vorgeworfenen Dienstvergehens erforderlich. Anderenfalls kann sich die Ermittlungsmaßnahme gemessen an der Schwere des Verdachts bereits für sich genommen als übermäßig erweisen und den betroffenen Beamten härter treffen als die Disziplinarmaßnahme selbst.

Für den Bereich der Disziplinarermittlungen des Bundes ordnet das BDG daher in § 27 I 2 ausdrücklich und klarstellend an, dass Beschlagnahme und Durchsuchung nur angeordnet werden dürfen, wenn der Beamte des ihm zur Last gelegten Dienstvergehens dringend verdächtig ist und die Maßnahme zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Disziplinarmaßnahme nicht außer Verhältnis steht. Regelmäßig werden entsprechende Zwangsmaßnahmen daher nur in Betracht kommen, wenn die Zurückstufung oder die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis zu erwarten ist (Hummel / Köhler/ Mayer / Baunack, BDG, 6. Aufl. 2016, § 27 Rdnr. 5); sie müssen jedenfalls dann als unverhältnismäßig eingestuft werden, wenn das mutmaßliche Dienstvergehen nur einen Verweis oder eine Geldbuße nach sich ziehen würde.

bb) Gemessen hieran kommt den Dienstvergehen, deren der Beschwerdeführer beschuldigt wird, ein ausreichendes Gewicht nicht zu, das einem Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung rechtfertigen könnte.

Durch die Mitwirkung an dem fraglichen Fernsehbeitrag hat er - sofern es sich bei der anonym auftretenden Person um ihn handeln sollte - möglicherweise versucht, über die Öffentlichkeit Einfluss auf seinen Dienstherrn auszuüben, und damit eine Dienstpflichtverletzung in Form der so genannten "Flucht in die Öffentlichkeit" begangen.  ...

Derartige Pflichtverletzungen werden in der Rechtsprechung des BVerwG regelmäßig als geringfügig angesehen und allenfalls mit einem Verweis oder einer Geldbuße geahndet.

Anhaltspunkte dafür, dass der Beamte hier in Anbetracht der vorliegenden Einzelfallumstände mit einer gravierenderen Disziplinarmaßnahme hätte belegt werden können, sind nicht vorgetragen worden und angesichts des geringfügigen Charakters der offenbarten Dienstinterna auch nicht ersichtlich. ... Dem entspricht im Übrigen auch der Vortrag der Landesregierung selbst, wonach eine Degradierung niemals angedacht, vielmehr nur die Verhängung einer Geldbuße oder eventuell einer Gehaltskürzung erwogen worden sei.
...
Insgesamt erweist sich damit die angeordnete Wohnungsdurchsuchung als unverhältnismäßig und mit Art. 13 I und II GG unvereinbar.

cc) Insbesondere aber hätten zunächst mildere Mittel zur Aufklärung des Tatverdachts ausgeschöpft werden müssen. Angesichts der vorhandenen Zeugenaussagen und der bereits gefertigten Lichtbildaufnahmen bestand bereits ohne die Wohnungsdurchsuchung eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für die Täterschaft des Beamten. Vor Anordnung der Wohnungsdurchsuchung hätte es daher nahe gelegen, den Beamten mit dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen zu konfrontieren, um ihm gegebenenfalls die Möglichkeit zu geben, mit einem Geständnis die drohende Wohnungsdurchsuchung zu verhindern. Dies gilt umso mehr, als dem Beamten auch nach Ankündigung der drohenden Wohnungsdurchsuchung keine Möglichkeit zur Seite gestanden hätte, die fraglichen Beweismittel zu vernichten. Weder die Balustrade des Balkons noch der Ausblick aus dem geöffneten Balkonfenster wäre einem Verdunkelungszugriff eröffnet gewesen.
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