Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 25.07.13 - BVerwG 2 C 12.11 -
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3.
Weitere Modifikationen der Eignungsanforderungen für
Behinderte, die weder schwerbehindert noch schwerbehinderten Menschen
gleichgestellt sind (§ 2 Abs. 3 SGB IX), sind verfassungsrechtlich
nicht geboten.
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Von dem vorstehend dargelegten Maßstab abweichende
Erleichterungen für die Feststellung der gesundheitlichen Eignung von
Beamtenbewerbern sind im nationalen Recht nur für schwerbehinderte
Menschen vorgesehen. Nach § 128 Abs. 1 SGB IX sind die besonderen
Vorschriften und Grundsätze für die Besetzung der Beamtenstellen so
zu gestalten, dass die Einstellung und Beschäftigung
schwerbehinderter Menschen gefördert und ein angemessener Anteil
schwerbehinderter Menschen unter den Beamten erreicht wird. Dieser
Gesetzgebungsauftrag ist von den Beamtengesetzgebern in Bund (vgl. §
9 Satz 2 BBG, § 5 Abs. 1 BLV) und Ländern aufgegriffen und in den
Laufbahnverordnungen umgesetzt worden. Nach § 25 Nr. 13 NBG wird die
Landesregierung ermächtigt, Ausgleichsmaßnahmen zugunsten von
schwerbehinderten Menschen durch Verordnung zu regeln. Gemäß § 14
Abs. 1 Satz 1 der hierauf gestützten Laufbahnverordnung darf von
schwerbehinderten Menschen bei der Einstellung nur das Mindestmaß
körperlicher Eignung für die Wahrnehmung von Laufbahnaufgaben
verlangt werden.
In Nr. 3.4 der durch Beschluss der Landesregierung
vom 09.11.04 erlassenen Richtlinien zur gleichberechtigten
und selbstbestimmten Teilhabe schwerbehinderter und ihnen
gleichgestellter Menschen am Berufsleben im öffentlichen Dienst (Nds.
MBl 2004 S. 783) wird dies dahin konkretisiert, dass die Eignung von
schwerbehinderten Menschen im Allgemeinen auch dann noch als gegeben
angesehen werden kann, wenn sie nur für die Wahrnehmung bestimmter
Dienstposten der betreffenden Laufbahn geeignet sind.
Niedersächsische Schwerbehindertenrichtlinie 2016 (pdf)
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Während
grundsätzlich bei der Einstellung von Beamten die körperliche Eignung
für die gesamte Laufbahn mit allen zu ihr gehörenden Ämtern und den
diesen zugeordneten Dienstposten zu verlangen ist (vgl. BVerfG, Urteil
vom 24.09.03 - 2 BvR 1436/02 - BVerfGE 108, 282 <296>; BVerwG,
Beschluss vom 20.06.13 - BVerwG 2 VR 1.13 -
Rn. 22 und 28 ff.),
gilt dies bei Schwerbehinderten daher nicht. Hier
wird nur das Mindestmaß körperlicher Eignung vorausgesetzt, so dass der Schwerbehinderte
nicht für alle Dienstposten geeignet sein muss.
Zu prüfen ist vielmehr,
ob die körperliche Eignung ausreicht, um dem Bewerber irgendeine
amtsangemessene Beschäftigung zuweisen zu können, die mit den
dienstlichen Bedürfnissen in Einklang steht (vgl. BVerfG,
Kammerbeschluss vom 10.12.08 - 2 BvR 2571/07 - BVerfGK 14,
492 <496 f.> Rn. 12; BVerwG, Urteil vom 21.06.07 -
BVerwG 2 A 6.06 - Rn. 28; ...).
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Kann ein schwerbehinderter Bewerber auch diese
Anforderungen nicht erfüllen, scheidet eine Übernahme in das
Beamtenverhältnis aus. Dies gilt auch in Ansehung der Gewährleistung
des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, weil die Ungleichbehandlung dann auf
zwingenden Gründen beruht. Fehlen einer Person gerade aufgrund ihrer
Behinderung bestimmte geistige oder körperliche Fähigkeiten, die
unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung eines Rechts sind, liegt
in der Verweigerung dieses Rechts kein Verstoß gegen das
Benachteiligungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG (BVerfG, Beschluss
vom 19.01.1999 - 1 BvR 2161/94 - BVerfGE 99, 341 <357>; vgl.
auch BVerwG, Urteil vom 03.03.11 - BVerwG 5 C 16.10 - BVerwGE
139, 135 Rn. 20 zu § 7 Abs. 1 AGG).
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Die unterschiedliche Behandlung von schwerbehinderten Menschen im Sinne von § 2 Abs. 2 SGB
IX - sowie ggf. der ihnen nach § 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellten
behinderten Menschen - gegenüber anderen Behinderten in Bezug auf die
Einstellung in ein Beamtenverhältnis ist mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG
vereinbar.
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Die Besserstellung knüpft an das sachlich gerechtfertigte
Kriterium der höheren Schutzbedürftigkeit dieser Personen an und
stellt darauf ab, dass sie infolge ihrer Behinderung einen geeigneten
Arbeitsplatz nicht oder nur schwieriger erlangen können. Es ist daher
folgerichtig, gerade diesem Personenkreis besondere Fürsorge im
Verfahren der Einstellung in ein Beamtenverhältnis zukommen zu lassen.
Die Personengruppen der Schwerbehinderten
einerseits und der weniger schwer behinderten Menschen andererseits
weisen wesentliche Unterschiede in Bezug auf den Regelungsgegenstand
auf, sodass eine Gleichbehandlung aus Rechtsgründen nicht geboten
ist. Aus diesem Grunde sehen § 128 Abs. 1 SGB IX sowie die
verfahrensbezogene Vorschrift in § 82 Satz 2 SGB IX eine Bevorzugung
dieser Personengruppe im Einstellungsverfahren ausdrücklich vor.
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Entsprechende Privilegierungen für Menschen, die zwar Funktionseinbußen
zu erleiden haben, deren Schweregrad aber nicht zur Annahme einer
Schwerbehinderung ausreicht und die schwerbehinderten Menschen auch
nicht gleichgestellt sind, sind auch nicht geboten. Diesem
Personenkreis fehlt es an der die Schutzbedürftigkeit begründenden
eingeschränkten Vermittlungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt (vgl. § 2
Abs. 3 SGB IX). Eine Einbeziehung der weniger schwer behinderten
Menschen in die Privilegierungen hätte überdies eine Entwertung der
für schwerbehinderte Menschen vorgesehenen Erleichterungen zur Folge,
weil sie die Erfolgschancen dieser Bewerber im Wettbewerb um die Vergabe
öffentlicher Ämter verschlechtern würde.
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4. Die Anwendung des allgemeinen Prognosemaßstabs und Prognosezeitraums auf behinderte
Bewerber, die nicht schwerbehindert oder Schwerbehinderten
gleichgestellt sind, ist mit der Richtlinie 2000/78/EG des Rates der
Europäischen Union vom 27.11.00 - RL - (ABl EG Nr. L 303 S.
16) und dem diese Richtlinie umsetzenden Allgemeinen
Gleichbehandlungsgesetz vom 14.08.06 - AGG - (BGBl I S. 1897)
vereinbar.
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Es kann offenbleiben, ob auch behinderte Menschen, die
weder schwerbehindert noch schwerbehinderten Menschen nach § 2 Abs. 3
SGB IX gleichgestellt sind, vom Begriff der Behinderung nach Art. 1
der RL erfasst werden. Wird dies bejaht, bewirkt die Anwendung des
allgemeinen Prognosemaßstabs und Prognosezeitraums eine mittelbare
Ungleichbehandlung dieser Gruppe (Art. 1, Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2
Buchst. b und Art. 3 RL; § 7 i.V.m. § 1, § 2 Abs. 1 Nr. 1 und 2 und §
3 Abs. 2 AGG).
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Zwar knüpft die Prognose
der gesundheitlichen Eignung nicht unmittelbar an die
Behinderteneigenschaft an; vielmehr gelten die Anforderungen für
behinderte und nicht behinderte Menschen gleichermaßen.
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Dieser
Personenkreis ist aber einem erhöhten Risiko ausgesetzt, wegen einer
negativen gesundheitlichen Eignungsprognose nicht verbeamtet zu werden.
Behinderungen haben regelmäßig zur Folge, dass die Leistungsfähigkeit
eingeschränkt ist oder Einschränkungen mit zunehmendem Alter zu
erwarten sind. Dieses Risiko verwirklicht sich auch dann, wenn
behinderten Bewerbern zwar nicht der Zugang zum Beruf, aber zu dessen
Ausübung im Beamtenverhältnis verwehrt wird. Die mittelbare
Ungleichbehandlung besteht hier darin, dass sich die Behinderung auf
die Bedingungen für den Zugang zur Erwerbstätigkeit im Sinne von Art.
3 Abs. 1 Buchst. a der RL (§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AGG) auswirkt.
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Die mittelbare Ungleichbehandlung stellt aber keine unionsrechtswidrige
Diskriminierung dar, weil sie durch ein angemessenes Ziel sachlich
gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels
angemessen und erforderlich sind (Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL). Die
Auslegung dieser Vorschrift durch den Gerichtshof der Europäischen
Union (EuGH) ist wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts für
die Auslegung des inhaltsgleichen § 3 Abs. 2 AGG verbindlich.
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Angemessene Ziele im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der RL können
sich insbesondere aus den Bereichen Beschäftigungspolitik,
Arbeitsmarkt und berufliche Bildung ergeben; daneben kommt jedes
weitere sozialpolitische Ziel in Betracht (EuGH, Urteil vom 13.09.11 - Rs. C-447/09, Prigge u.a. - NJW 2011, 3209 Rn. 81).
Die Mitgliedstaaten verfügen über einen weiten Spielraum bei der Wahl
der Maßnahmen, die sie zur Erreichung eines angemessenen Ziels für
erforderlich halten. Die Wahl kann auf politischen, wirtschaftlichen,
sozialen, demografischen oder fiskalischen Erwägungen beruhen, wobei
letztere für sich allein nicht ausreichen (EuGH, Urteil vom 21.07.11 - Rs. C- 159/10 und 160/10, Fuchs und Köhler - NVwZ 2011, 1249
Rn. 61, 73 f. und 80 f.). Die Angemessenheit und Erforderlichkeit
einer Maßnahme ist nachgewiesen, wenn sie im Hinblick auf das
verfolgte Ziel nicht unvernünftig erscheint und auf Beweismittel gestützt ist, deren Beweiskraft das
nationale Gericht zu beurteilen hat (EuGH, Urteil vom 21.07.11
a.a.O. Rn. 83). Somit ist auch Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der RL
Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Urteile vom 19.02.09 - BVerwG 2 C 18.07 - BVerwGE 133, 143 = Buchholz 237.7 §
15 NWLBG Nr. 6 jeweils Rn. 15 und vom 23.02.12 - BVerwG 2 C
76.10 - BVerwGE 142, 59 = Buchholz 11 Art. 33 Abs. 2 GG Nr. 54
jeweils Rn. 44).
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Das Interesse des Dienstherrn an einem ausgewogenen
Verhältnis von Lebensdienstzeit und Ruhestand der Beamten stellt ein
angemessenes Ziel im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der RL dar.
Dies folgt aus dem Zusammenhang zwischen der Dienstleistung der
Beamten und den Versorgungsleistungen im Ruhestand. Wie oben
dargelegt erdienen Beamte die lebenslange Versorgung während der
aktiven Zeit. Die unionsrechtliche Anerkennung des daraus folgenden
Interesses an einer adäquaten Lebensdienstzeit wird durch Art. 6 Abs.
1 Satz 2 Buchst. c der RL belegt, wonach Ungleichbehandlungen wegen
des Alters insbesondere die Festlegung eines Höchstalters für die
Einstellung aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen
Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand einschließen
(Urteil vom 23.02.12 a.a.O. jeweils Rn. 45).
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Die Anwendung der allgemeinen Prognose für die gesundheitliche Eignung von
Beamtenbewerbern auf behinderte Bewerber, die weder schwerbehindert noch
Schwerbehinderten gleichgestellt sind, stellt eine geeignete und
erforderliche Maßnahme dar, um eine angemessene, die lebenslange
Versorgung rechtfertigende Lebensdienstzeit sicherzustellen.
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Der
zeitliche Bezugspunkt der Prognoseentscheidung ist - vorbehaltlich einer
gesetzlichen Regelung - durch das Lebenszeit- und Alimentationsprinzip
vorgegeben. Die hauptberufliche Beschäftigung auf Lebenszeit und das
hiermit korrespondierende Alimentationsprinzip sind prägende
Strukturmerkmale des Berufsbeamtentums (BVerfG, Beschluss vom 19.09.07 - 2 BvF 3/02 - BVerfGE 119, 247 <263>). Sie bilden die
Voraussetzung dafür, dass sich der Beamte ganz dem öffentlichen
Dienst als Lebensberuf widmen und in rechtlicher und wirtschaftlicher Unabhängigkeit zur Erfüllung der dem
Berufsbeamtentum vom Grundgesetz zugewiesenen Aufgabe, im politischen
Kräftespiel eine stabile, gesetzestreue Verwaltung zu sichern,
beitragen kann.
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Das auf Lebenszeit angelegte Beamtenverhältnis, das
Schutz vor Entlassung, amtsangemessene Besoldung und lebenslange
Versorgung für den Beamten und seine Hinterbliebenen gewährleistet,
rechtfertigt das Interesse des Dienstherrn an einem ausgewogenen
zeitlichen Verhältnis von Lebensdienstzeit und Ruhestandszeit des
Beamten (Urteil vom 23.02.12 a.a.O. jeweils Rn. 16 sowie Rn.
45). Die Erhaltung einer unabhängigen Beamtenschaft stellt ein
rechtmäßiges Ziel im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Buchst. b Ziff. i der RL
dar. Darüber hinaus ist die Sicherung einer angemessenen
Lebensdienstzeit auch aus fiskalischen Erwägungen geboten (vgl. zur
Berücksichtigung der versicherungsmathematischen Bedeutung der
Lebensarbeitszeit auch Art. 6 Abs. 2 der RL). Die Versorgungslast der
pensionierten Beamten wird im Gegensatz zum umlagefinanzierten
Rentenversicherungssystem in vollem Umfang aus dem Haushalt der
Anstellungskörperschaft finanziert. Ein angemessenes Verhältnis
zwischen aktiver Dienstzeit und Versorgungslast hat deshalb bei Beamten
besonderes Gewicht.
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Die Eignungsprognose mit dem dargestellten
Inhalt ist auch eine verhältnismäßige Maßnahme zur Gewährleistung der
bestmöglichen Besetzung öffentlicher Ämter.
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Die Anforderung der
gesundheitlichen Eignung ist erforderlich, weil andere Maßnahmen das
Lebenszeitprinzip beeinträchtigen und daher nicht gleich wirksam im
Hinblick auf das angestrebte Ziel sind.
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Sie ist auch angemessen. Bei
den Beamten typischerweise übertragenen hoheitlichen Tätigkeiten geht
es um die Aufgabenbereiche des Funktionsvorbehalts aus Art. 33 Abs. 4
GG, deren Wahrnehmung - gerade im Interesse des gesetzesunterworfenen
Bürgers - die besonderen Verlässlichkeits-, Stetigkeitsund
Rechtsstaatlichkeitsgarantien des Beamtentums erfordern (BVerfG,
Beschluss vom 19.09.07 a.a.O. S. 261). Die besonderen
Anforderungen an die Art und
Qualität der Aufgabenerfüllung in diesen sensiblen Bereichen lassen
es nicht zu, Abstriche von den Eignungsanforderungen zu machen und
Bewerber einzustellen, deren vorzeitige Dienstunfähigkeit schon jetzt
wahrscheinlich ist (vgl. zur Berücksichtigung der Art der Aufgaben
und dem Ermessen der Mitgliedstaaten bei der Organisation ihrer
öffentlichen Verwaltung EuGH, Urteil vom 08.09.11 - Rs.
C-177/10 - Slg. 2011, I-7907 Rn. 69 und 76; zum Interesse,
eingestellte Beamte über einen hinreichend langen Zeitraum verwenden
zu können, auch Urteil vom 12.01.10 - Rs. C-229/08 - Slg.
2010, I-1 Rn. 43). Soweit - wie für die in Rede stehende Berufsgruppe
der Lehrer - auch eine Tätigkeit als Tarifbeschäftigter möglich ist,
betrifft die Ungleichbehandlung überdies nicht die Berufsausübung
selbst, sondern nur deren rechtliche Ausgestaltung.